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20. Häsler - Mitschuld - Dürrenmatt - Salis - Verschweigungstaktik Guisans - Bonjour - Aktenvernichtung - Friedensforschung - Rütliredeentwurf - Historiker angeklagt - oral history fehlt - die Schweiz von 1967 bis 1988
von Michael Palomino (1998 / 2004 / 2010)
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aus:
-- Hauptquelle: Markus Heiniger: Dreizehn Gründe. Warum die Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht erobert wurde, Limmat-Verlag, Zürich 1989
-- Webseiten
Neue Diskussion um die Asylpolitik durch A.Häsler - die historische Mitschuld der Schweiz - Dürrenmatt: "keine andere Wahl" - Salis über Guisans Verschweigungstaktik - Bonjour propagiert das "Friedensländchen"
1963 wird in Haifa eine Strasse zu Ehren von Carl Lutz "Carl-Lutz-Strasse" benannt [web06].
1965 bekommt Carl Lutz vom Museum in Yad Vashem den Titel "Gerechter der Nationen" zugesprochen [web06].
1967 kommt in der Schweiz das Buch "Das Boot ist voll" des Aktivdienstleistenden Alfred A.Häsler heraus. Seine Aussage ist eindeutig:
Häsler:
"Wir hätten noch Zehntausende ohne Schaden aufnehmen können." (S.226)[281]
Der Preis, der für die "Verschonung" bezahlt wurde, wird immer deutlicher. Die Arbeit für die Nazis wird immer noch verdrängt. Dabei wird diese Arbeitsleistung zur historischen Mitschuld der Schweiz an den Nazi-Verbrechen des 3.Reiches (S.239).[282]
Im selben Jahr gibt Rudolf Bucher sein Buch "Zwischen Verrat und Menschlichtkeit" mit einer fundamentalen Kritik an den Ärztemissionen heraus. Der ehemalige Missionisteilnehmer Ernst Gerber kontert die Vorwürfe mit einem Briefwechsel und mit einem eigenen Buch "Im Dienste des Roten Kreuzes" im Jahre 1969, das von den Medien jedoch nicht sehr Ernst genommen wird [web01].
1974 behauptet Dürrenmatt, man hätte "keine andere Wahl" gehabt als die Kollaboration anzunehmen.
Dürrenmatt:
"Die Wahrheit ist, dass wir keine Wahl hatten. Wir haben sicher im Kriege viele Fehler gemacht, aber im wesentlichen war unsere Politik menschlich [!] . [...] In einer unwürdigen Zeit ist keine rein würdige Haltung möglich nachträglich zu verlangen, unsere Politiker hätten Helden sein sollen, geht nicht an." (S.239)[283]
Salis berichtet in seinem Buch "Grenzüberschreitungen" 1978 weiter über die Lügen Guisans, der von Konzentrationslagern und Grausamkeiten nichts gewusst haben will.
Salis:
<Unbegreiflich ist der nächste Absatz des Generalsberichtes: "Um die Sache richtig darzustellen, muss man sich auch daran erinnern, dass man damals nichts wusste von Konzentrationslagern, Grausamkeiten und sadistischen Greueln." Nichts wusste? Aber die Konzentrationslager waren doch seit 1933 bekannt, auch die Grausamkeiten in Polen und anderswo; die Gestapo war für ihre Folter- und Mordmethoden berüchtigt, die Greuel an den Juden skandalisierten die ganze Welt [...] Guisans Schlussbericht zeigt, dass er seine Augen vor den Realitäten des Hitler-Regimes verschloss. Unser militärisch-politischer Machtapparat, der aufgrund des Notrechts über weitgehende Vollmachten verfügte, wollte von Naziverbrechen nicht reden hören.> (S.229-230)[284]
Der Historiker und Basler Universitätsprofessor Edgar Bonjour bleibt dagegen im selben Jahr 1978 der eingeschliffenen schweizer Unschuldspropaganda der schweizer Militärs und Grossbanken treu, indem er in seinem Buch "Schweizerische Neutralität. Kurzfassung der Geschichte in einem Band" schreibt:
Bonjour:
"Im grossen und ganzen hat die Schweiz in Verbundenheit des Neutralen mit den Kämpfenden der ganzen Welt ihr humanitäres Erbe hochsinnig verwaltet. Man darf in ihrer Tätigkeit als Schutzmacht eine der schönsten weltweiten Ausstrahlungen ihrer immerwährenden Neutralität erblicken." (S.162)[285]
Bonjour bezeichnet die Schweiz von damals sogar als "Friedensländchen" [!] :
"Die kriegsführenden Mächte bedurften des neutralen Friedensländchens für die Durchführung zwischenstaatlicher und humanitärer Aufgaben. Die schweizerische Neutralität wurde zu einer internationalen Notwendigkeit." (S.162)[286]
Bonjours Meinung zur Flüchtlingspolitik ist die eines Hofhistorikers: Man habe eine Intervention von deutscher Seite vermeiden wollen, denn das Reich hätte die Juden als Arbeitskräfte zurückverlangen können[287] (S.223-224) [was jeder Logik widerspricht, denn die schweizer Betriebe haben ja fast alle nur für die Wehrmacht gearbeitet, somit wäre jeglicher Rücktransport unnötig gewesen] .
Nach dem Tod von Carl Lutz im Jahre 1975 vermacht seine Frau Gertrud ("Trudi") den gesamten Nachlass der Gedenkstätte Yad Vashem [web06].
Aktenvernichtung - internationale Friedensforschung - die "Neutralität zugunsten Deutschlands" - Guisans Rütliredeentwurf - Bewunderung der Wehrmacht noch 1985
Die Jahresberichte der schweizerischen Verrechnungsstelle Zürich von 1938-1948 sind vernichtet, ebenso die Akten über die Transferverhandlungen, andere Transferfragen und Interventionen zugunsten schweizerischer Finanzinteressen bei den Alliierten. Ferner fehlt in den Finanzbilanzen noch eine Milliarde Franken, für deren Verwendung noch keine Dokumente gefunden wurden (S.114).[288]
Im Zuge der Aufklärung der ganzen Vorgänge kommt 1980 die "freie Devisenspitze" durch Klaus Urner endlich doch ans Licht (S.153).[289]
1980 publiziert der Zürcher Strafrechtler Peter Noll (Strafrechtsprofessor an der Universität Zürich [web09]) eine Analyse über die vollstreckten Todesurteile im Zweiten Weltkrieg unter General Guisan: "Landesverrat. 17 Lebensläufe und Todesurteile". Noll präsentiert die genauen Vorgänge, muss aber alle Namen ändern, sonst hätte er keine Akteneinsicht erhalten. Die Praxis der Anonymisierung wirkt befremdend, denn zu Weltkriegszeiten waren immer alle Namen im vollen Wortlaut am Radio und in den Zeitungen genannt worden [web03]. Es galt, die juristische Sperrfrist von 50 Jahren zu beachten [web10].
[Das ist eine typische schweizerische Art der Aufklärung: Niemand soll es gewesen sein. Eventuell wurde auch der Name des Generals verändert...]
Peter Noll, Portrait [1]
1982 stirbt Peter Noll an Blasenkrebs. Eine Operation, die sein Leben verlängern würde, lehnt er ab. Sein Freund Max Frisch begleitet sein Sterben [web09].
1983 erstellt der norwegische Friedensforscher Johan Galtung eine Analyse des Weges zur Stabilität im Staatswesen auf. Es sind die "vier Wege zu Frieden und Sicherheit", die ein Land beschreiten muss, um in Frieden Politik zu machen.
Galtung:
"Es braucht eine "rein defensive, unprovokative Art der Verteidigung", eine "Loslösung von den Supermächten", eine grosse "innere Stärke" und eine "Nützlichkeit nach aussen." (S.234)[290]
Im selben Jahr bezeichnet der Berner Geschichtsprofessor Walther Hofer den Zürcher Anwalt Wilhelm Frick als "Gestapo-Vertrauten" (S.134-135). Der Nachweis, dass Frick eines der Hauptscharniere des nazistischen Finanzverkehrs war, wird jedenfalls erbracht (S.135).[291]
Nur langsam will die Öffentlichkeit in der Schweiz Kritik an der Politik zur Zeit des Krieges akzeptieren und umsetzen. Heiniger spricht von einer weitgehenden "Neutralität zugunsten Deutschlands", zugunsten eines Deutschlands der Zeit der Diktatur, der Verachtung der Menschenwürde und des Rassismus (S.234). Die schweizer Politik hat sich eine Reihe von "Verschonungsgründen" angelegt, deren Kausalität umgedreht werden muss (S.235).
Die ersten Forscher tasten sich 1985 an Guisan und rütteln nun stark an dem ewigen Lobesbild. Man entdeckt den Entwurf der Rütlirede, worin Guisan korporative Formen erwägt und glaubt, dass die Demokratie "Schiffbruch" erleiden würde (S.215-216).[292] Ein weiterer entdeckter Brief Guisans an den damaligen EMD-Chef Minger bezeugt seine Empfehlung einer Stärkung des Bundesrates auf Kosten des Parlaments und eine Überwindung der traditionellen Parteiendemokratie. Ein weiteres Dokument beweist Guisans Aktivität als Zensor, als er eine Rede des SP-Nationalrats Robert Grimm von Bundesrat Minger beschlagnahmen lässt, weil dieser sich an einem SP-Parteitag kritisch zur Achse geäussert habe (S.216).
Die stehende Bewunderung und Zitierung der deutschen Wehrmacht hält auch noch 1985 an. Ein Beispiel ist das Titelblatt der "Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschriften" (ASMZ) im Mai 1985 zum 40-jährigen Kriegsende. Generaloberst Alfred Jodl wird zitiert:
Jodl Zitat:
"In einer verzweifelten Lage kann nur ein verzweifelter Entschluss vielleicht noch helfen." (S.27)[293]
[Die Verherrlichung des Russlandfeldzuges könnte kaum grösser sein] .
Wachsende Kritik an der schweizer "Lebenslüge" - Untersuchungen über die Neutralität - Historiker werden angeklagt - immer noch Militärpropaganda - fehlende "oral history" - der Zustand 1988 - Ehrungen für Häfliger und Lutz
Die Kritik an der Politik im Umgang mit der Vergangenheit wird stärker. 1986 spricht der Philosoph Hans Saner von der "zurechtgelegten Lebenslüge":
"Die Armee hat uns gerettet, obwohl sie nicht kämpfen musste. Und da die unblutigen Rettungen immer die besten sind, erhöht das Faktum der Verschonung nur den Ruhm des Retters." (S.239-240)[294]
Historiker Peter Hug berichtet, selbst die Minimalbestimmungen des Haager Abkommens von 1909 seien in mindestens fünffacher Weise verletzt worden (S.93). [295]
1987 protestieren 75 schweizer Historiker und weitere Persönlichkeiten in einer Erklärung gegen die gerichtliche Einschränkung der zeitgeschichtlichen Forschung. Die Beteiligten werden für ihren öffentlichen Protest gegen die ewige eidgenössische Zensur angeklagt (S.134-135) , und zwar von Fricks Nachfahren (S.251).[296]
Der im Jahre 1967 verstorbene Friedrich Born, der Wirtschaftsdiplomat, der in Budapest neben Carl Lutz etwa 11-15.000 Juden vor der Deportation bewahrte, wird am 5.6.1987 posthum in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als "Gerechter unter den Völkern" geehrt und in die Liste aufgenommen [web11].
Weiterhin vernimmt man die stereotype und verdummende Militärpropaganda. Militärhistoriker Schaufelberger 1988:
"Wo hätte sich der Widerstandswille unseres Volkes gegen die nationalsozialistische Gewaltideologie innerlich stärken, wo hätte er äusserlich Rückhalt und Ermutigung finden können, wenn nicht bei der intakten, zum Kampf bereiten und entschlossenen Armee?" (S.240)[297]
Im selben Jahr 1988 erscheint durch mehrere Historiker die Dokumentation zur Anklage "Zeitgeschichte im Würgegriff der Gerichte", Bern 1988. (S.254)
Im selben Jahr 1988 wird der Bankangestellte und Retter von Mauthausen, Louis Häfliger, zum zweiten Mal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen [web07].
Erst im Jahre 1990 wird Louis Häfliger, der das gesamte Lager Mauthausen vor der Sprengung gerettet hat, durch das Rote Kreuz rehabilitiert (IKRK-Präsident Sommaruga) [web07].
[Für schweizer Verhältnisse kommt die Rehabilitation eher früh, denn Häfliger kann seine Rehabilitation noch erleben. Normalerweise finden in der Schweiz Rehabilitationen erst ca. 20 bis 50 Jahre nach dem Tode der betroffenen Person statt, weil die politische Mentalität so verklemmt ist].
1991 wird in Budapest am Eingang zum alten Budapester Ghetto zu Ehren von Carl Lutz eine Gedenkstätte eingerichtet [web06].
Ab 1991 wird der ehemalige Teilnehmer von schweizerischen Ärztemissionen, Ernst Gerber, einer der Hauptzeitzeugen für die Medien in Sachen Zweiter Weltkrieg, u.a. für die Fernsehsendung "Spuren der Zeit" (4.12.1991) und danach immer wieder mit Presseartikeln und in Radiosendungen [web01]. Sein Tagebuch über die Ärztemissionen "Im Dienst des Roten Kreuzes" wird im Jahre 2002 neu herausgegeben [web01, web02].
Im Jahr 1992 entsteht ein Film von Alphons Matt über Louis Häfliger und seine Rettung von Mauthausen "Der vergessene Retter: Die Befreiung des KZs Mauthausen", ein Dokumentationsfilm von 50 Minuten [web07].
1998 werden die vom Schweizerischen Roten Kreuz 1942-1944 in Südfrankreich entlassenen Kinderhilfe-Mitarbeiter rehabilitiert. Ehrungen gibt es jedoch keine [web04].
2003 bringt Frédéric Gonseth seinen Film über schweizerische Ärztemissionen "Mission des Grauens" (frz. "Mission en Enfer") heraus (Deutsch, Französisch, Polnisch, Russisch, Schweizerdeutsch), mit deutschen Untertiteln, 95 Minuten; Im Verleih von GMfilms [web05].
2003 eröffnet Zürich einen Louis-Häfliger-Park [web07].
Im Jahre 2006 errichtet die "Amerikanische" Botschaft in Budapest ein Carl-Lutz-Denkmal im Botschaftspark [web06].
Im selben Jahr kommt der Film von Daniel Künzi über die Jugoslawien-Ärztemissionen heraus "Mission chez Tito" [web08].
Im selben Jahre benennt Wien eine Strasse nach Louis Häfliger "Louis-Häfliger-Gasse". Die Strasse in Wien-Floridsdorf führt durch ein ehemaliges Aussenlager des KZs Mauthausen [web07].
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