aus: Trudi Weinhandl: Else
Züblin-Spiller. Journalistin und Abstinenzlerin aus
Winterthur; In: Taxi; April 2011; S.24-25
[Geburt 1881 - Alkohol-Elend mit selbstgebranntem
Kartoffelschnaps in Winterthur]
<Elsi Spiller (1881-1948) wurde am 1. Oktober 188 in
Winterthur-Seen geboren. Ihr Vater Johann Heinrich Spiller
arbeitete als Monteur bei Sulzer. Er starb noch vor seinem
40. Geburtstag an Tuberkulose. Seine Witwe Marie blieb mit
der dreijährigen Tochter und den beiden Buben allein, bis
sie vier Jahre später Adrian Widmer aus Seen heiratete. Elsi
lebte in einem liebevollen Elternhaus, war aber umringt von
Elend und Not. Alkoholismus war verbreitet, denn
selbstgebrannter Kartoffelschnaps war der billigste Trost
vieler Menschen.
Mit knapp 20 Jahren hatte das Fräulein Elsi Spiller bereits
beträchtliche Berufserfahrung in Büros und im Hotelgewerbe
(St. Moritz, Pontresina) gesammelt.
Erste Schritte im
Journalismus - [Aufstieg im Verlagshaus Jean Frey -
Engagement gegen Elendsviertel in der Schweiz und in
Europa]
Ab 1904 arbeitete sie im Verlagshaus des Herrn Jean Frey.
Zuerst im Büro und ab 1911 als Redakteurin. Sie schrieb vor
allem sozial-politische Reportagen über Alkohol, Armut und
das Elend der Arbeiterschaft. Diese Texte wurden unter
anderem im Winterthurer Volksblatt, dem Weinländer und in
der NZZ veröffentlicht. Damals engagierte sich vor allem die
Heilsarmee sehr für die Benachteiligten. Die Städte Europas
füllten sich mit Menschen, die dichtgedrängt in
Elendsvierteln auf engstem Raum inmitten von Schmutz,
schlechter Luft und Krankheit hausten. Einige Strassen
entfernt vom Glanz, der Prasserei und dem Luxus der
Oberschicht.
Engagiert mit der
Heilsarmee - [Elsi Spiller wird zur direkten Anlaufstelle
in Zürich-Aussersihl - Reiseberichte und Rezensionen]
Else Spiller kam mit der Heilsarmee in Zürich-Aussersihl in
Kontakt. Dort war eine Anlaufstelle, die inmitten von Armut,
Krankheit und Prostitution Gutes bewirkte. Sie begleitete
die helfenden auf ihren Besuchen tagsüber, aber auch nachts.
Schreibend verarbeitete sie das Elend und die Not der von
der Gesellschaft und dem Staat alleingelassenen Menschen.
Später schrieb sie darüber aufrüttelnde Berichte für den
Pressedienst der Heilsarmee. Sie wollte mit ihren Texten
nicht Mitleid wecken, sondern die Menschen motivieren
hinzusehen, sich zu engagieren. Verantwortungsgefühl,
Gerechtigkeit und Menschenliebe standen an erster Stelle.
Dank der Heilsarmee reiste sie in Europa, organisierte
Kongresse und Vorträge und lernte wichtige Verbündete
kennen.
Später verfasste sie Reiseberichte und -bücher über den
einsetzenden Tourismus (Furka- und Berninabahn) und
Kulturrezensionen zu den Theaterstücken von Ibsen,
Strindberg, Hauptmann und anderen.
[Autodidaktin]
Bemerkenswert ist, dass sich Else Spiller all ihr Wissen und
Können selber angeeignet hat und bereits früh ein Netzwerk
zu bilden begann. Dies in einer Zeit, als Frauen vor allem
im Haushalt und als Mütter ihre Berufung sahen. Gemeinsam
mit ihrer fast 60-jährigen Mutter betreute sie zusätzlich
die vier Halbwaisen ihres Bruders.
Wichtige Kontakte werden
geknüpft - [Eduard Sulzer-Ziegler - Bücher über
Armenviertel in Europa]
Sie lernte während ihrer Vortragsreisen den Nationalrat
Eduard Sulzer-Ziegler kennen. Dieser hatte in der Sulzer
Winterthur eine der ersten Wohlfahrtseinrichtungen für die
Arbeiter geschaffen. Dank Sulzer erhielt sie einen Kredit,
um ein Haus in Kilchberg zu bauen. 1911 wurde die 30-jährige
Else Spiller die erste Redakteurin einer politischen Zeitung
in der Schweiz.
Sie begann vermehrt zu reisen, schrieb Bücher und
berichtete, wie es in den Armenvierteln in anderen Ländern
aussah. In drei Büchern verarbeitete sie ihre Erlebnisse und
Beobachtungen ihrer Reisen nach Dänemark, Deutschland,
England, Frankreich, Holland und Österreich. Auch die
wichtige Basisarbeit der Heilsarmee fasste sie in ihren
Büchern zusammen.
Ein Buch von Elli Spiller: Slums. erlebnisse in den
Schlammvierteln moderner Grossstädte". Buchdeckel (S.24)
[Frieda Haab-Sidler -
Kinderhilfstag]
Durch ihre Aktivitäten lernte sie weitere, engagierte
Menschen kennen. Eine davon war Frau Professor Frieda
Haab-Sidler. Gemeinsam organisierten sie den Zürcher
Kinderhilfstag 1911 und 1913. Mit dem Gewinn von je 140.000
Franken liess sich viel Gutes bewirken.
Postkarte mit Werbung für den Kinderhilfstag von 1913
(S.25)
Die Journalistin wird
Unternehmerin - [alkoholfreie Beizen für Soldaten im
Ersten Weltkrieg]
Der Erste Weltkrieg veränderte den helvetischen Alltag.
Viele Soldaten vertrieben sich die Zeit der Grenzbesetzung
mit Alkohol. Nicht nur Fräulein Spiller hatte diese Exzesse
und deren unangenehme Folgen satt. Schweizweit engagierten
sich Frauen gegen den Alkoholismus. In Basel und Bern
entstanden erste "Soldatenstuben". Mit mässigem Erfolg. Um
alles unter Kontrolle zu bekommen, gründete die
Journalistin, gemeinsam mit anderen Frauen, straff geführte
Soldatenstube, Kasernenkantinen und initiierte ein Netz von
alkoholfreien Beizen. Die Unternehmerin war geboren.
Taten statt Worte
Innert eines Jahres öffneten über 100 Lokale die Tür und
boten Tee und Süssmost an. Dort war es warm, es gab zu
essen, Kameradschaft konnte gepflegt werden und es fand sich
immer ein offenes Ohr für die Nöte der Soldaten. Der
Grundstein für die spätere SV-Group war gelegt.
[Alkoholfreie Kantinen -
gegen den Widerstand von Fabrikherren und Brauereien]
Nach dem Krieg weitete sie das Netz alkoholfreier Lokale mit
gesundem Essen in die Fabriken aus. Trotz heftiger
Widerstände von Seiten [der] Fabrikherren und Brauereien
setzte sich Züblins Vorstellung von Arbeiterkantinen durch.
Zeit für die Liebe -
[Facharzt für Herz- und Lungenkrankheiten]
Trotz ihres immensen Engagements und der vielen
Verpflichtungen lernte Else Spiller 1919 - inzwischen 38 -
den fünf Jahre älteren St. Galler Facharzt für Herz- und
Lungenkrankheiten, Dr. med. Ernst Züblin, kennen.
Ausgerechnet in Amerika begegneten sich die beiden. 1920
wurde geheiratet. Den Haushalt führten Mutter Spiller und
Elses Nichte Marie. Diese wurde später von den Züblins
adoptiert.
[Zweiter Weltkrieg]: Ein
Krieg bringt Herausforderungen
Mit 48 Jahren veröffentlichte sie ihre Memoiren. Frau
Züblin-Spiller war inzwischen eine geachtete Bürgerin und
agierte in vielen Bereichen traditionell konservativ.
Trotzdem darf sie als Feministin betrachtet werden. Denn sie
vertrat nicht nur die Auffassung, dass Frauen und Männer die
gleichen Rechte und pflichten haben sollten, sie lebte dies
tagtäglich vor. Sie setzte sich für die Erhöhung der
Frauenlöhne ein, schaffte beim SV-Service Stellen für Frauen
auf Entscheidungsebene, im Kader.
Der Zweite Weltkrieg wurde zu einer weiteren
Herausforderung. Else Züblin-Spiller gilt als Mitbegründerin
des Frauenhilfsdienstes. Sie setzte sich an oberster Stelle
und mit Nachdruck dafür ein, dass auch Frauen ihre
"patriotische" Pflicht erledigen durften. Konkret hiess
dies, dass Frauen zum Wehrdienst zugelassen wurden und den
Männern (theoretisch) gleichgestellt wurden. 1939 wurde der
militärische Frauenhilfsdienst (MFHD/FHD) gegründet und
bereits 1940 fanden erste Einführungskurse statt. Die Frauen
wurden vor allem in den Bereichen Kanzleidienst,
Fliegerbeobachtung, Sanität, Fürsorgedienst und Hausdienst
eingesetzt.
Intensives Leben, viel Ehre
1936 erhielt sie den Alfred-Binet-Preis und 1941 wurde die
60-jährige Else Züblin-Spiller von der Universität Zürich
mit einem Ehrendoktorat ausgezeichnet. Am 11. April 1948
starb Else Züblin-Spiller nach einem engagierten und
ausgefüllten Leben.