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Gefangenenlager in der Schweiz 1933-1945 01. Meldungen
15.1.1998: Die schweizerischen Arbeitslager im Zweiten Weltkrieg: <Die schweizerischen Arbeitslager im Zweiten Weltkrieg. Retten, drillen, weiterschieben> -- 21.10.1999: KZ Büren an der Aare 1940-1945: "Bürs" -- 8.11.2013: Nach zweifacher Flucht: Gefangenenlager Wauwilermoos 1944 mit "US"-Militärpilot James Misuraca --
Meldungen
präsentiert von Michael Palomino
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15.1.1998: Die schweizerischen Arbeitslager im Zweiten Weltkrieg: <Die schweizerischen Arbeitslager im Zweiten Weltkrieg. Retten, drillen, weiterschieben>
[Zwangsarbeit, Kindswegnahmen, Sexverbote, die Verpflichtung zur Weiterreise von Flüchtlingen in der Schweiz durch das Rothmund-Gesetz 1933-1950]
aus: Die Wochenzeitung (WoZ); 15.1.1998 (3/1998), S.5
Literatur:
-- Nettie Sutro (Schweizerisches Hilfswerk für Emigrantenkinder): "Jugend auf der Flucht" 1952
-- Alfred A. Häsler: "Das Boot ist voll". Ex Libris, Zürich 1967
-- Silvia Plüss-Pozzi: "Vierzig Jahre im Dienste der Flüchtlinge in der Schweiz, 1945-1985". Bericht der schweizerischen ökumenischen Flüchtlingshilfe. Bern 1985
-- Edith Dietz: "Freiheit in Grenzen". dipa-Verlag. Frankfurt a.M. 1993
-- Charlotte Weber: "Gegen den Strom der Finsternis". Chronos-Verlag. Zürich 1994
<Können die schweizerischen Arbeitslager während des Zweiten Weltkriegs mit Sklavenlagern verglichen werden? Das Simon Wiesenthal Centrum tut das und will von der Schweiz Entschuldigung und Entschädigung.
BARBARA AFFOLTER
Fred Alexander und Michael Roth, ehemalige jüdische Flüchtlinge, die in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs in Arbeitslagern interniert waren, wollen gegen die Schweiz vorgehen. In den Arbeitslagern habe es ausser wässriger Suppe, etwas Kaffee und Brot kaum zu essen gegeben, obschon man von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf den Feldern schwer habe arbeiten müssen. Und geschlafen habe man auf Stroh, "wie in einem KZ der Nazis". Der Bericht des Simon Wiesenthal Zentrums erhebt dieselben Vorwürfe.
Flüchtlingstransitland Schweiz [Rothmund: "auf diesem Stroh dahinvegetieren"]
"Sollen sie nur auf diesem Stroh dahinvegetieren, bis sie von sich aus wieder gehen wollen. Sie sollen nur sehen, dass die Schweiz kein Paradies ist, und jene entmutigen, die noch zu uns kommen wollen." Dies soll der Chef der eidgenössischen Polizeiabteilung - des Vorläufers der heutigen Fremdenpolizei -, Heinrich Rothmund, anlässlich eines Rapports in einem Internierungslager gesagt haben. Der Ausspruch, der 1957 im Ludwig-Bericht an den Bundesrat über die Flüchtlingspolitik der Schweiz zwischen 1933 und 1945 zitiert wurde, ist schon damals heftig kritisiert worden. Die Polizeiabteilung wiegelte damals ab, Rothmund habe nur sagen wollen, dass auch schweizer Soldaten auf Stroh schliefen. Sicher ist: Den Flüchtlingen - allen voran den jüdischen - wurde deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nur geduldet waren.
[Arbeitsverbot für Flüchtlinge - Verpflichtung zur Weiterreise für Flüchtlinge bis 1950]
Die Schweiz war ein Transitland: Bereits 1933 gab der Bundesrat eine Weisung heraus, nach der die Flüchtlinge verpflichtet waren, sofort ihre Weiterreise in ein anderes Land zu organisieren. Gleichzeitig erliess er ein striktes Arbeitsverbot. Die Flüchtlingshilfe konzentrierte sich deshalb vor allem auf die Hilfe bei der Weiterreise. Die Weisung, Flüchtlinge ausschliesslich vorübergehend aufzunehmen, wurde erst 1950 wieder aufgehoben.
[Flüchtlingshilfe bis 1942 in privater Hand - Militärflüchtlinge staatlich betreut]
Die Betreuung und Unterstützung der Flüchtlinge lag bis 1942 ausschliesslich in den Händen privater Organisationen. Der Staat kümmerte sich nur um die "Militärpersonen", die geflohenen Kriegsgefangenen und die Deserteure. Die "Zivilpersonen", die seit Ausbruch des Krieges zunehmend mittellos in die Schweiz flohen, brauchten nicht nur Beratung bei der Weiterreise, sondern immer mehr auch finanzielle Hilfe.
Edith Dietz, die 1942 in die Schweiz geflüchtet war, berichtet in den Erinnerungen an ihre Internierungszeit in der Schweiz sogar von einer Frau, die ihr Kleinkind noch während der Stillzeit in eine private Familie habe geben müssen. Die ehemalige Lagerleiterin Charlotte Weber meint heute, dass neben Sachzwängen auch eine zweifelhafte Moral Anlass für die Trennung von Familien gewesen sei: "Die meisten Flüchtlinge konnten nicht beweisen, dass sie verheiratet waren. Und man wollte nicht, dass sie sich vermehrten."
Die private jüdische Fürsorge hatte sich bereits 1938 verpflichten müssen, alle anfallenden Kosten für die jüdischen Flüchtlinge zu übernehmen, nur deshalb war die Schweiz laut Rothmund bereit, weitere Juden über die Grenze zu lassen: "Man durfte es damals wagen, weil man die Zusicherungen der leitenden Persönlichkeiten der schweizerischen Judenschaft hatte, die jüdische Flüchtlingshilfe werde die Unterkunft und Verpflegung der Flüchtlinge während ihres Aufenthaltes in der Schweiz aufkommen." So haben 18.000 schweizerische Juden - später unterstützt durch Hilfe aus den "USA" und eine vom EJPD durchgesetzte Sondersteuer, die von begüterten Flüchtlingen verlangt wurde - alle Kosten für die jüdischen Flüchtlinge übernommen.
[Flüchtlinge in Arbeitslagern ab 1942]
Erst 1942, als die privaten Hilfswerke, Vereine und Komitees überfordert waren, führte der Bund die Arbeitsdienstpflicht ein. Fortan übernahm er die Kosten für die Unterbringung der Flüchtlinge. Alle Arbeitstauglichen mussten in Lagern leben und hier ihren Beitrag zur Anbauschlacht leisten.
Lager wie preussische Kasernen
[Das schweizerische Lagersystem: Lagerarten]
Die Schweiz betrieb während des Zweiten Weltkriegs folgende Typen von Lagern: Sammellager für neu eingetroffene Flüchtlinge, Quarantänelager, Auffanglager (für Flüchtlinge, deren Verhältnisse nach ihrem Aufenthalt in den Sammel- und Quarantänelagern weiter abgeklärt werden sollten) sowie Arbeitslager und Ausbildungslager.
Aus einer Zusammenstellung der Polizeiabteilung vom 17. Januar 1944 geht hervor, dass damals 5612 Flüchtlinge in Quarantäne- und Auffanglagern, 3681 in Arbeitslagern, 4028 in Interniertenheimen, 262 in "besonderen Lagern" und 24 in Strafanstalten lebten.
[Nicht geschulte antisemitische Drill-Offiziere als Lagerleiter]
Das Leben in den Lagern und Heimen war für die Flüchtlinge oft kaum zu ertragen. Dem unendlichen Leid, das jeder Flüchtlinge durchlebt hatte, wurde kaum Rechnung getragen. Die Lagerleiter - oft Offiziere der Schweizer Armee - waren völlig unvorbereitet für diese Aufgabe. Alfred E. Häsler belegt in seinem Buch "Das Boot ist voll" mehrere Fälle von Offizieren, die man als Lagerleiter eingesetzt hatte, obschon sie deklarierte Antisemiten waren. Ordnung und Disziplin erschienen wichtiger als das seelische Wohl der Insassen. Mit militärischem Drill und unnötigen Schikanen wie Redeverbot während der Arbeit wurden die Flüchtlinge in manchen Lagern systematisch gedemütigt.
Charlotte Weber, die in den letzten Kriegsjahren als Lagerleiterin gearbeitet hat, zitiert in ihrem Buch "Gegen den Strom der Finsternis" den Brief einer Frau:
"Ich denke mir manchmal wirklich, warum ich vor den Deutschen ausgerückt bin, um wieder in einer preussischen Kaserne zu landen..."
[Trennung von Flüchtlingsfamilien, Kindswegnahme, Sexverbot]
Menschenrechtswidrig ist aus heutiger Sicht auch die Trennung der Familien bei der Internierung: Frauen und Männer kamen in getrennte Lager, die Kinder in separate Heime oder in private Freiplätze. Wie traumatisch diese Trennung für Ehepaare oder Geschwister war, die oft sämtliche Angehörige verloren hatten, auf der Flucht immer in Gefahr gewesen waren, einander zu verlieren, hat Häsler mit einem Briefausschnitt dokumentiert: "Wir sind eine vierköpfige Familie, jeder an einem anderen Ort! Und meine Frau und ich, wir werden wahnsinnig, weil wir keine Aussicht sehen, einmal wieder vereint zu werden."
Die Härte im Umgang mit den Flüchtlingen war aber nicht ausschliesslich den Behörden vorbehalten. "Wie oft haben wir uns gegrämt", schreibt Nettie Sutro vom Schweizerischen Hilfswerk für Emigrantenkinder 1952 im Buch "Jugend auf der Flucht": "Da arbeiteten wir mit letzter Kraft, wollten nur retten, helfen, lindern und wurden ganz gegen unsere Absicht wie über Nacht zu 'Hartherzigen', 'Verständnislosen', 'Bürokratinnen'." Immerhin habe sich das Hilfswerk die Frage gestellt, ob die Trennung von Kindern und Eltern richtig gewesen sei; Sutro zweifelt nicht daran: "Wir wussten wohl, was wir den Erwachsenen damit antaten; aber man hatte nur die Wahl, entweder die Kinder in eine möglichst günstige Lage zu bringen oder die Gefühle der Väter und vor allem der Mütter zu schonen. Es war offenbar zu viel verlangt, dass Flüchtlingseltern ihre eigenen Wünsche im Hinblick auf die der anderen mässigten und still verzichteten."
[Machtlose Journalisten plädieren für die Rechte der Flüchtlinge - Singverbote im Lager für Kommunisten]
Eine Reihe von schweizer Persönlichkeiten setzten sich politisch, publizistisch und persönlich für die Anliegen der Flüchtlinge und immer auch für Einzelschicksale ein. So der evangelische Pfarrer Paul Vogt oder die "Flüchtlingsmutter" Gertrud Kurz. Sie nahmen den Kampf mit den Behörden, mit Heinrich Rothmund und Bundesrat Eduard von Steiger persönlich auf. So konnte Kurz nach dem schwarzen 13. August 1942, als Rothmund aufgrund eines Bundesratsbeschlusses die Grenzen schliessen liess, in einem persönlichen Gespräch mit von Steiger erreichen, dass die Bestimmungen etwas gelockert wurden. Andererseits musste sie den Behörden viele Gefallen und ihre Loyalität unter Beweis stellen: So schickte man sie mehrmals ins Tessin, um mit den internierten Kommunisten zu verhandeln: Sie sollte sie davon abbringen, im Lagern lauthals ihre Parteilieder zu singen.
[Flüchtlingsarbeit bis 1950: Visa, Taschengeld, Kleider, Plätze organisiert - ab 1950 Asylrecht]
"Was damals getan wurde, war Feuerwehrarbeit", sagt Silvia Plüss, die von 1945 bis 1985 in der Flüchtlingshilfe tätig war. "Von einer eigentlichen Betreuungsarbeit konnte man noch nicht sprechen. Wir haben Visa besorgt, Taschengeld, Kleider, haben Freiplätze gesucht. Die eigentliche Flüchtlingsbetreuung kam 1950 erst mit dem Dauerasyl."
Ein Hilfswerk von damals dürfe man nicht mein einem heutigen vergleichen, meint Plüss: "Die Hilfswerke waren im Entstehen, das waren keine grossen Institutionen, es waren kleine personifizierte Kreise, vielleicht auf ein Pfarrhaus beschränkt."
"Es wird um jeden Einzelnen gekämpft", schrieb 1943 der Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorge. Die Hilfswerke kümmerten sich um die Flüchtlinge als Menschen, als Individuen und anerkannten ihr persönliches Leid und Schicksal. so wurden die Hilfswerke gleichsam zum Gewissen der Nation. "Durch die unterschiedlichen Hilfswerke waren alle gesellschaftlichen Schichten in die Flüchtlingshilfe eingebunden", sagt Plüss. So war die soziale Trägerschaft des Arbeiterhilfswerks eine andere als beispielsweise die des Hilfswerks für deutsche Intellektuelle.
Bis heute ist Plüss der Meinung, dass Flüchtlingshilfe von privaten Institutionen getragen werden müsse. Auf den Staat sei in Notzeiten kein Verlass, da er oft glaube, nach anderen Kriterien als der reinen Menschlichkeit handeln zu müssen.
[Erst ab 1944 wird Forderungen der Flüchtlingswerke nachgegeben]
Im letzten Kriegsjahr entspannte sich die Situation für die Flüchtlinge ein wenig. Als das Kriegsende in Sicht war, wurden endlich alte Forderungen der Hilfswerke erfüllt: Jugendliche konnten eine Berufslehre machen. "Arbeitstaugliche" Flüchtlinge durften jetzt auch ausserhalb der Lager wohnen. Das Arbeitsverbot wurde gelockert, Umschulungskurse wurden angeboten.
Ende Februar 1945 organisierte die Zentralstelle für Flüchtlingshilfe eine Konferenz in Montreux, um über die Rück- und Weiterreise der Flüchtlinge zu beraten. Neben den Hilfswerken nahmen Vertreter der Behörden teil, und erstmals wurden - als Zeichen der entspannteren Lage - auch Flüchtlinge selbst um ihre Meinung gefragt. Die Ergebnisse der Konferenz waren materiell gering. Man einigte sich darauf, dass bei der Weiterreise kein Druck auf die Flüchtlinge ausgeübt und niemand gegen seinen Willen in ein Land abgeschoben werden sollte. Erstmals 1947 wurde einer Gruppe von betagten und psychisch kranken Flüchtlingen in der Schweiz "Dauerasyl" gegeben. 1950 hob der Bundesrat die Weisung aus dem Jahr 1933 über die Pflicht zur Weiterreise für Flüchtlinge und Emigranten auf. Erst jetzt erhielten die Flüchtlinge keine Briefe mehr, in denen die Polizeiabteilung die Flüchtlinge regelmässig gefragt hatte: "Was haben Sie für Ihre Weiterreise unternommen?">
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21.10.1999: KZ Büren an der Aare 1940-1945: "Bürs"
aus: Tagesanzeiger online: "Auf die gleiche Art wie in Deutschland"; 21.10.1999;
http://www.tages-anzeiger.ch/991021/210699.HTM
Buchempfehlung
<Jürg Stadelmann/Selina Krause: "Concentrationslager" Büren an der Aare 1940-1946. Das grösste Flüchtlingslager der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Verlag hier+jetzt, Baden 1999. 58 Fr.>
<Ein neues Sachbuch erinnert an das grösste Schweizer Internierungslager im Zweiten Weltkrieg und an ein unrühmliches Kapitel Flüchtlingspolitik.
Von Remigius Bütler
[Ein Internierungslager mit Stacheldraht, Baracken und Wachtturm]
Rudolf Müller, Münsinger Pfarrer und Chef des Armeefürsorgedienstes, war entsetzt über die "Konzentrationslagerkopie" in Büren an der Aare: Ein stacheldrahtumzäuntes Barackendorf, mittendrin ein Wachtturm - das grösste und am längsten betriebene Flüchtlingslager der Schweiz weckte auf den ersten Blick schlimme Assoziationen. 1990 erklärte ein früherer polnischer Wachtmeister: "Dies ist das Einzige, was ich den Schweizern vorwerfe: dass sie dieses Lager gebaut haben auf die gleiche Art wie die Lager in Deutschland." Solche Aussagen finden sich im Sachbuch "Concentrationslager Büren an der Aare" von den Historikern Jürg Stadelmann und Selina Krause.
[Ein Lager auf einer Insel - und die Liebe siegt trotzdem]
12 000 Polen hatten im Juni 1940 als Teil eines französischen Armeekorps die Grenze überschritten. Damals war die Schweiz auf die lange Internierung ganzer Einheiten nicht vorbereitet, der Territorialdienst war völlig überfordert. Ein mit Bundesrat Rudolf Minger befreundeter Oberst und Ingenieur entwarf ein Lager mit 6000 Plätzen. Das Areal war auf allen Seiten von der Aare umflossen und lag abseits vom Städtchen und weit ausserhalb des Réduits. Obwohl Kontakte zwischen Internierten und Einheimischen verboten waren, waren Liebesbeziehungen und Ehen zwischen Schweizerinnen und Polen keine Seltenheit.
Schüsse auf Meuterer - [zu wenig Beschäftigung - Alkohol und Schlägerei]
In Büren war zu einem Zeitpunkt ein "Concentrationslager" vorgesehen, als deutsche KZs noch den Ruf von Gefängnissen und Arbeitslagern, nicht aber von Massenvernichtungsstätten hatten. Flüchtlinge und Vertriebene an einem zentralen Ort unterzubringen, betrachteten die Verantwortlichen als effizienteste und kostengünstigste Lösung. Obwohl als Musterbeispiel helvetischer Improvisation gelobt, handelte es sich um eine Fehlkonzeption: An die seelische Verfassung der Menschen, von denen die meisten unterbeschäftigt waren, hatten die Planer nicht gedacht, so dass Alkoholmissbrauch und Raufereien zur Tagesordnung gehörten.
[Freiheitskämpfer inhaftiert - die Revolte am 28.12.1940]
Polnische Soldaten lebten als Erste in den 120 winterfesten Baracken im "Häftli", wie das Gebiet sinnigerweise hiess. Von der Bevölkerung vor kurzem noch als Freiheitskämpfer bewundert, taten sie sich schwer mit der militärisch straffen Organisation. Am 28. Dezember 1940 wuchs sich der Unmut zur Revolte aus. Die Lagerleitung liess schiessen, zwei Polen wurden verletzt. Von da an galten sie nicht mehr als "Helden", sondern als "Lagerinsassen", die es mit allen Mitteln zu disziplinieren galt.
Hunger und Bajonette - [jüdische Häftlinge ab Spätsommer 1942 - "Bürs"]
Ab Spätsommer 1942 folgten jüdische Flüchtlinge. Das Lager blieb aber unter militärischem Kommando, die Zivilisten wurden von Soldaten mit Schäferhunden und aufgepflanzten Bajonetten bewacht. Die martialische Umgebung wirkte angesichts der bereits erlebten Schrecken besonders beängstigend. Nebst Kälte und miserablen hygienischen Bedingungen machte den Männern, Frauen und Kindern auch Hunger zu schaffen, obwohl trotz Rationierung genügend Lebensmittel vorhanden waren. Der Name "Bürs" machte die Runde - in Anspielung auf das berüchtigte südfranzösische Lager Gurs. Die unsensible Behandlung kritisieren die Verfasser denn auch als "dunkles und unrühmliches Kapitel".
[7000 Inhaftierte - russische "Heimkehrverweigerer" 1945 - die Schweiz liefert die Russen aus]
Gesamthaft 7000 polnische Soldaten, jüdische Zivilisten, italienische Militärpersonen und Partisanen waren von 1940 bis Kriegsende hier untergebracht und erlebten "Helferwillen und Sympathie, aber auch Sturheit und Inkompetenz". Die Autoren Selina Krause und Jürg Stadelmann zeichnen ein differenziertes Bild des "Mikrokosmos Lager" und seinen Kontakten nach aussen. Die Verfasser beleuchten zudem die fast unbekannte Geschichte sowjetrussischer "Heimkehrverweigerer". Diese wurden zum aussenpolitischen Spielball zwischen Stalin und der Schweiz, die Hand für Zwangsrepatriierungen bot, um ihre diplomatischen Beziehungen zu normalisieren.
Nebst umfangreichen Quellen hat das Team Schilderungen vieler Zeitzeugen sowie illegal gedrehte Filme ausgewertet. Herausgekommen ist ein leicht lesbares, reichhaltig illustriertes Werk, das ohne moralisierende Wertungen auskommt und selbst wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.
Remigius Bütler>
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8.11.2013: Nach zweifacher Flucht: Gefangenenlager Wauwilermoos 1944 mit "US"-Militärpilot James Misuraca
aus: 20 minuten online: Straflager Wauwilermoos: «Ich war Kriegsgefangener in der Schweiz»; 8.11.2013;
http://www.20min.ch/ausland/news/story/18129625
<von Martin Suter, New York -
Der US-Militärflieger James Misuraca denkt mit gemischten Gefühlen an seine Internierung in der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. «20 Minuten» sprach mit ihm«Das Essen war grauenhaft, wir waren ständig hungrig», erinnert sich James Misuraca. Er und seine Mitgefangenen mussten das Stroh auf hölzernen Kajütenbetten mit Läusen teilen. «Man wollte an uns ein Exempel statuieren.»
Der 92-jährige Veteran der US-Luftwaffe, der in Florida mit seiner Frau Bobby den wohlverdienten Lebensabend verbringt, spricht nicht von einem deutschen KZ. Seine Gedanken drehen sich um das Schweizer Straflager Wauwilermoos beim luzernischen Sursee, wo der damalige Leutnant 1944 zwei schreckliche Wochen verbringen musste.
Gleich behandeln wie Kriegsgefangene
Misuraca gehört zu 142 früheren amerikanischen Militärfliegern, die in den nächsten Monaten mit einer Medaille als «Prisoner of War» - Kriegsgefangene - geehrt werden. Nach über einem Jahrzehnt der Bemühung hat der Army-Historiker Dwight Mead im US-Kongress durchsetzen können, dass in der Schweiz Internierte von den Streitkräften gleich behandelt werden wie amerikanische Gefangene in Krieg führenden Ländern.
Die «POW»-Medaille soll dazu beitragen, dass künftig niemand mehr die in neutralen Ländern festgehaltenen Soldaten als Feiglinge betrachtet. «Das Wichtigste ist die Anerkennung», sagt Misuraca. Die Medaille «macht klar, dass wir das waren, was wir immer gesagt haben: Internierte, die im Krieg ihren Job taten wie alle anderen.»
Über Deutschland ging alles schief
Beim Start der Staffel in England am 24. April 1944 erwartet der Waffenspezialist der US Army Air Force einen Bombenflug wie viele vor ihm. Der B-24-Bomber mit seiner zehnköpfigen Besatzung soll eine strategisch wichtige Düsenflugzeugfabrik bei Augsburg angreifen. Doch mitten über Deutschland fällt in Folge eines mechanischen Defekts einer der vier Propellermotoren aus. «Wir konnten unserem Geschwader nicht mehr folgen», erinnert sich Misuraca. Als Flugabwehrfeuer die Treibstoffzufuhr beschädigt, wird dem Piloten klar, dass er nicht mehr nach England zurückkehren kann. Er entscheidet, in die Schweiz zu fliegen.
Über helvetischem Territorium wird der Bomber sogleich von zwei Schweizer Jagdflugzeugen abgefangen. «Sie wackelten mit den Flügeln und forderten uns so auf, ihnen zu folgen», sagt Misuraca. Die B-24 wackelt zurück und landet samt Eskorte auf dem Militärflugplatz in Dübendorf. «Wir wurden durchsucht, und man nahm uns die Waffen weg», sagt der Veteran. Ausser Name, Rang und Matrikelnummer habe er aber nichts gesagt.
[3 Wochen Quarantäne in Chaumont - Hotel Palace in Adelboden - Flucht - Davos-Platz]
Flucht aus den Berghotels
Nach drei Wochen Quarantäne im neuenburgischen Chaumont werden die Amerikaner im Hotel Palace in Adelboden untergebracht. «Wir wurden von den Soldaten sehr gut behandelt und konnten manchmal mit auf Wanderungen gehen», sagt Misuraca. «Die Essensrationen waren gleich gross wie die der Soldaten. Bessere Pilze hatte ich vorher noch nie gegessen.»
Nach sechs Monaten, als die Alliierten sich von Frankreich her der Schweizer Grenze näherten, setzen sich die ersten Internierten ab. Zusammen mit einem Kameraden entschliesst sich auch Misuraca zur Flucht. Die zwei beschaffen sich falsche Pässe, werden dann aber nach Davos-Platz versetzt. Die zwei Wochen dort seien die besten des ganzen Schweiz-Aufenthalts gewesen, sagt er. «Ich hatte auch ein Sweetheart, mit dem ich ausging.»
[Zweiter Fluchtversuch bei Genf - Wauwilermoos als Straflager]
Fluchtversuch mit Folgen
Dennoch sind die Offiziere ihrer Unfreiheit überdrüssig. Misuraca und sein Offizierskollege fahren nach Genf, doch sie werden erwischt, als sie den Grenzzaun überklettern wollen. Sie versuchen ein zweites Mal zu fliehen und werden erneut gefasst. Jetzt werden sie in ein Lager verfrachtet, von dessen Existenz die Öffentlichkeit nichts wusste: Wauwilermoos.
Misuraca erinnert sich genau an die doppelten Stacheldrahtzaun, an die Flutlichter, die Wachhunde, das miserable Essen. Die zehn Baracken für je etwa 25 Insassen hätten so ausgesehen wie deutsche Konzentrationslager, sagt der Bombenflieger. In schlechtester Erinnerung behält er den Lagerleiter, einen Hauptmann namens André Béguin. «Alle wussten, dass er ein Nazi-Sympathisant war», sagt Misuraca. «Er trug sogar eine Nazi-Uniform.» Béguin habe das Camp geleitet nach dem Grundsatz: Keine Gnade. «Er war ein böser Mensch.»
[Inspektion durch das IKRK - aber es wird vieles unterschlagen - vorenthaltene Post und Päckchen - dritte Flucht]
Insassen absichtlich gequält
Inspektoren des IKRK seien nach Wauwilermoos gekommen, aber die Lagerleitung habe ihnen nicht alles gezeigt, sagt Misuraca. Nach dem Krieg habe man ein Zimmer voller Briefe und Rotkreuzpakete gefunden, die den Insassen vorenthalten wurden. Béguin wurde später wegen Diebstahls angeklagt, aus der Armee ausgeschlossen und landete für dreieinhalb Jahre hinter Gitter.
Trotz der Umstände schaffen es die Air-Force-Offiziere, zu dritt aus dem Lager auszubrechen. Nach einem Marsch nach Westen durch den Oktobernebel verbringen sie die Nacht in feuchter Kälte. Durchfroren klopfen sie bei einem Landgasthof an. Die Tür öffnet ein etwa 16-jähriges Mädchen mit zwei blonden Haarzöpfen. «Genau so hatte ich mir an der High School Heidi vorgestellt», sagt Misuraca.
[Wauwilermoos wird offiziell erst jetzt bekannt]
Militärattaché protestiert
Die Heidi hilft den Amerikanern. Sie kontaktiert die US-Vertretung in Bern, wo man sich sofort der zwei Offiziere annimmt. Als sie von Wauwilermoos erzählen, staunen die Diplomaten. «Es war das erste Mal, dass sie von dem Lager erfuhren.» Misuracas Gruppe wird für ein paar Tage in der Residenz des US-Militärattachés, Brigadier Barnwell Legge, untergebracht, bevor man sie zur Grenze fährt und am 1. November 1944 ausser Landes bringt.
Die Amerikaner reagieren sofort auf die Entdeckung des Lagers. Schon zwei Tage später besichtigt Legge das Wauwilermoos. In der Folge protestiert er bei den Schweizer Behörden dagegen, dass dort Internierte schlechter behandelt würden als in anderen Ländern Kriegsgefangene.
Die Schweiz gibt nach
Auf den starken US-Druck hin lenkt Divisionär Ruggero Dollfus ein, der Chef des für die Lager zuständigen Kommissariats für Internierung und Hospitalisierung. Dollfus beschliesst, die Haftbedingungen für die Amerikaner im Wauwilermoos sofort zu lockern und zur Entlastung den Bau einer zweiten Anlage in Angriff zu nehmen. Jedoch wird erst 1949 die grundsätzliche Regelung eingeführt, dass Internierte in neutralen Staaten nach der Genfer Konvention die gleichen Rechte haben wie Kriegsgefangene.
Zu diesem Zeitpunkt ist James Misuraca längst wieder in den Vereinigten Staaten. Er bleibt weitere 22 Jahre bei der Air Force, wo er es bis zum Oberstleutnant bringt. Dann macht er sich als Finanzmakler selbständig.
In die Schweiz ist er nie zurückgekehrt. «Als ich das Land verliess, hatte ich die Alpen gründlich satt», gesteht er. Heute würde er gern Davos wiedersehen. Doch anders als für seine Anerkennung als Kriegsgefangener, könnte es dafür zu spät sein.>
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