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Schweiz: Pestalozzis Schul- und Armenhäuser und sein politisches Wirken

Sein Unvermögen der Betriebsführung - seine schriftstellerischen und seine politischen Tätigkeiten - die Schulinstitute mit revolutionärem Anschauungsunterricht - er bleibt fast genau so arm wie seine Armenkinder

Pestalozzi, Portrait     Zürich, Grossmünster, Aquarell von Johann Jakob Meyer
Pestalozzi und das Grossmünster Zürich. Aquarell
von Johann Jakob Meyer 1828. Das Limmatquai ist da noch nicht gebaut.

Zusammenfassung von Michael Palomino (2005)


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aus: Arthur Brühlmeier / Gerhard Kuhlemann: www.heinrich-pestalozzi.info


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Inhalt

Pestalozzis Ausbildung und Ideale
  • Geburt - Bedingungen des Aufwachsens - Schulbesuche in Zürich
  • Höhere Bildung - idealisiertes Lebensbild durch falsche Philosophie - Bodmers "Patrioten" mit Willen zur Gesellschaftsveränderung - Pestalozzi will kein Amt in der diskriminierenden Aristokratie
  • Pestalozzis Umbruch: Lehre in Landwirtschaft - Verhältnis zu Anna Schulthess
Die Zeit auf dem "Neuhof" bei Birr 1769-1798
  • Der Erwerb des Landgutes Neuhof bei Birr
  • Das Ideal des Bauern und der Bauer Pestalozzi: Die Nachbarn zerstören mit Gewohnheitsrecht die Ernte - Rückzug von Krediten - Missernten führen zum ersten Bankrott
  • Der Sohn Hansjakob: Erziehungsexperimente an einem epileptischen Kind - Infragestellung der Ideale von Rousseau - Schlussfolgerungen zum Mittelweg
  • Pestalozzi als Armenerzieher: Missernten und mangelnder Kapitalismus führen zum weiteren Bankrott - Isolation
  • Der Schriftsteller Pestalozzi: Bücher, Schriften und Bilder als öffentliche Mahnung zur Verbesserung der sozialen Umstände
  • Pestalozzi und die Revolution:
    Ehrenbürger von Frankreich - das differenzierte Urteil über die Revolution - politische Vermittlungstätigkeiten - der französische Raubzug - Helvetisches Volksblatt
  • Die Zehntenfrage: Abschaffung der Zehnten-Steuer, ohne allgemeine Steuergesetze geschaffen zu haben - Pestalozzi-Schriften zum Zehnten - Untergang der "Helvetischen Republik"
Stans und der Stanser Brief: 1798-1799 - das politische Ende eines Waisenhauses im Frauenkloster - ganzheitliches Erziehungskonzept im Stanser Brief
  • Die Eröffnung der Armenanstalt unter den Spannungen der französischen Besetzung
  • Die Struktur im Armenhaus: Sittlichkeit in drei Stufen: Fühlen, Handeln und Denken - die Gegner bewirken die baldige Schliessung - Militärlazarett - "Stanser Brief" 1799
Burgdorf und Münchenbuchsee: 1799-1804/05: Erfolge durch Anschauungsunterricht - die Mediationsverfassung unter Mitwirkung von Pestalozzi in Paris
  • Der Entschluss, Lehrer zu werden - erfolgreicher Anschauungsunterricht in Burgdorf
  • Bürgerkrieg gegen den Einheitsstaat - Ausarbeitung der Mediationsverfassung in Paris mit Pestalozzi - Pestalozzis Forderungen für die neue Staatsform der Schweiz
  • Pestalozzis Erziehungsbuch: "Buch der Mütter oder Anleitung für Mütter ihre Kinder bemerken und reden zu lehren" 1803
  • Pestalozzi ohne Zentralstaat - Bern lässt Schloss Burgdorf räumen - Münchenbuchsee - Zusammenarbeit mit Fellenberg scheitert - Schloss Yverdon auf Lebenszeit für Pestalozzi
Yverdon (Ifersen): 1804-1825: Blühendes Pestalozzi-Institut - Verluste durch Druckerei - Lehrerstreit - Einnahmen durch Publikationen - Clendy
  • Pestalozzis Institut schreibt Verluste vor allem wegen einer Druckerei
  • Die Unterrichtsgestaltung: 60 Stunden Schule pro Woche - Experimente
  • Zusammenarbeit mit den Eltern - wochenlange Schülerwanderungen - Sport und Spiel
  • Das Prinzip der Grossfamilie - Pestalozzi bleibt ohne Führungsqualitäten - Streit der Lehrer unter sich
  • Beispiel der Auseinandersetzungen: Niederer verfälscht Pestalozzis Lenzburger Rede von 1809
  • Der Streit um die Nachfolge von Pestalozzi 1810: Die Lehrer Schmid und Niederer - Reformen von Schmid bewirken Feindschaft der Lehrer - Abgang von 16 Lehrern, Abgang von Niederer - Kampf Niederers gegen Schmid - Schmid geht nach Paris
  • Verlagsvertrag mit Cotta 1817 - Projekt der Wiedereröffnung des Neuhofs 1818
Hauptsächliche Pestalozzi-Werke der Zeit von Yverdon 1804-1825
  • Pestalozzi: "Geist und Herz in der Methode" 1805
  • Pestalozzi: "Ansichten und Erfahrungen" 1806
  • Pestalozzi: Rede zum 72. Geburtstag 1818 mit Erziehungsleitlinien
Letzte Lebensjahre auf dem Neuhof: 1825-1827: Autobiographie, Erziehungslehre - verleumderisches Buch von Niederer
Pestalozzi: "Schwanengesang" 1826: Autobiographie und Erziehungslehre

Die Geschehnisse um Pestalozzis Grab
  • Ein Grabdenkmal 1846
  • Fund der Gebeine 1984 und medizinische Untersuchungen: Pestalozzis Krankheiten

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Pestalozzis Ausbildung und Ideale

Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Kindheit und Jugend in Zürich: 1746-1768; http://www.heinrich-pestalozzi.info


Geburt - Bedingungen des Aufwachsens - Schulbesuche in Zürich

Geburt von Johann Heinrich Pestalozzi am 12. Januar 1746 am Oberen Hirschgraben in Zürich. Ein Vorfahre, Johann Anton Pestalozza, war Mitte des 16. Jh. aus Chiavenna nach Zürich eingewandert, als Kaufmann, ohne Erfahrung in öffentlichen Ämtern. Im Verlauf der Zeit erwirbt die Familie das Stadtbürgerrecht. Der Grossvater studiert Theologie und wird Pfarrer in Zürich-Höngg (damals eine eigene Gemeinde).

Johann Heinrich Pestalozzi ist hat 6 Geschwister, wovon vier in den ersten Jahren der Kindheit sterben. Die Verhältnisse der schlussendlich fünfköpfigen Familie sind ärmlich, denn der Vater Johann Baptist Pestalozzi (1718-1751) kann als "Chirurgus" die Familie kaum durchbringen. Mit 1751 stirbt der Vater und die Verhältnisse werden noch ärmlicher.

Die Mutter bekommt Hilfe von der besser gestellten Verwandtschaft aus Richterswil am Zürichsee. Die Familie zieht aber nicht nach Richterswil, sondern bleibt in Zürich, wo sie das Stadtbürgerrecht immer noch privilegiert, vielleicht auch wegen der besseren Bildungschancen für die Kinder. Mutter Pestalozzi - durch die vielen Kindstode und die Armut gezeichnet - agiert zusammen mit der treuen Magd Barbara Schmid sehr ängstlich und überbehütet die Kinder, mit viel Langeweile, mit vielen Kontaktverboten und Spielverboten in der Jugend. Wichtigen Erfahrungen von Geheimnis und sozialem Zusammenhang werden nicht zugelassen, so dass Heinrich Pestalozzi sich in der Schule nicht adäquat zu seinem Alter verhält und sogar als "Heiri Wunderli von Thorlicken" gehänselt wird. Heinrich Pestalozzi entwickelt dadurch nervöse Zustände und Angstzustände, die in der Schule sehr auffallen. Die Ursachen kann Pestalozzi im späteren Leben sehr gut reflektieren.


Höhere Bildung - idealisiertes Lebensbild durch falsche Philosophie - Bodmers "Patrioten" mit Willen zur Gesellschaftsveränderung - Pestalozzi will kein Amt in der diskriminierenden Aristokratie

Pestalozzi besucht in Zürich die höchstmöglichen unentgeltlichen Schulen: Schola Carolina im Grossmünster, Studium am aufklärerischen Collegium Carolinum (eine Schule mit Hochschulcharakter), zuerst mit dem Ziel, Pfarrer zu werden, dann aber studiert er Jura u.a. mit dem Lehrer Johann Jakob Bodmer (1698 - 1783). Bodmer schart mit Pestalozzi und anderen eine Gruppe Studenten um sich mit wöchentlichem Treffpunkt in der Zunftstube der Gerber. Die Gruppe nennt sich "Helvetische Gesellschaft zur Gerwe" oder kurz "Patrioten" und gibt eine eigene Zeitschrift - den "Erinnerer" - heraus. Da werden Philosophie, Gesellschaftsformen und Lebensideale diskutiert: Platon, Titus, Livius, Sallust, Cicero, Comenius, Macchiavelli, Leibniz, Montesquieu, Sulzer, Hume, Shaftesbury, Lessing, und vor allem und immer wieder Jean-Jacques Rousseau.

Die Realität in Zürich aber ist anders: Die Macht liegt in der Hand weniger führender Familien. Kritik an der Macht der Wenigen, Kritik an der Willkür oder die Einforderung von Rechten wird mit Verfolgung oder sogar
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Pestalozzi 1766: Schrift Agis,
                        Titelblatt
    

   
Titelblatt "Agis", 1765

Verbannung bestraft. Die Preise für Landwirtschaftsprodukte sind diktiert und Orte, wo Bauern ihre Ware einkaufen dürfen, auch. Eigentlicher Handel oder grösseres Gewerbe ist nur den privilegierten Bürgern der Stadt gestattet. Kirchliche und staatliche Stellen - Pfarrämter, Gerichte und Verwaltung - können nur durch Stadtbürger besetzt werden. Die herrschenden Familien reagieren gegen die Gruppe der "Patrioten" nervös, Bodmer selbst wird nicht angegriffen.

Mit seinen frühen Forderungen nach geläuterten Sitten in Gesellschaft und Staat, nach einer Staatsreform und gerechter Herrschaft mit Gleichheit, Gewaltenteilung oder der Beendigung der offensichtlichen Ausbeutung der Landschaft und ihrer Bewohner verscherzt sich Pestalozzi in Zürich ein öffentliches Amt, das ihm als Stadtbürger damals "zusteht". Stattdessen publiziert Pestalozzi erste Schriften gegen die städtische Aristokratie, wie z.B. "Agis" und "Wünsche".

"Agis" ist Pestalozzis frühestes erhaltene Werk und erscheint 1765 im Lindauer Journal, aus Vorsicht vor der Zürcher Zensur. Pestalozzi beschreibt darin die  Reformpolitik des Spartanerkönigs Agis, die am Widerstand der herrschenden und besitzenden Aristokratie scheitert. Ironisch bemerkt Pestalozzi, es sich dabei aber um "keine Satyre auf unsere Umstände". Auch in der Zeitschrift "Wünsche", eine Folge von aphoristischen Skizzen aus dem Erinnerer, 1766, macht Pestalozzis seine kritische Ausrichtung deutlich.

Jean-Jacques Rousseau hat auf die Studenten der damaligen Zeit grosse Wirkung, mit dem "Gesellschaftsvertrag" und der "Émile" 1762, die für das Ideal eines natürlichen, tugendhaften und freien Lebens eintreten, mit Ablehnung des unnatürlichen Stadtlebens. Pestalozzi entwickelt zusätzlich die Idee, den Armen und Rechtlosen auf dem Lande helfen zu wollen, denn von der Pfarrei seines Grossvaters her kennt er die Situation der ungebildeten und rechtlosen Landbevölkerung.


Pestalozzis Umbruch: Lehre in Landwirtschaft - Verhältnis zu Anna Schulthess

Pestalozzi reagiert radikal, bricht 21-jährig sein Studium ab und entschliesst sich, Bauer bzw. Leiter ("Herr") eines Landguts 

 
Karte mit Position von Kirchberg


    
Karte mit Position von Kirchberg

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erlernen, begibt er sich im Sommer 1767 in die Lehre bei Johann Rudolf Tschiffeli in Kirchberg (Kanton Bern).

Die Landwirtschaft steht in dieser Zeit im Umbruch: Die aufkommenden "Naturwissenschaften" verdrängen die traditionelle Dreifelderwirtschaft zu Gunsten einer intensiveren Nutzung des Bodens durch gezielte Düngung und durch Verzicht auf das Ruhejahr. Tschiffeli ist eine der treibenden Kräfte dieser Entwicklung, und Pestalozzi kopiert ihn, immer in Hinsicht auf die Unnatürlichkeit der Geldwirtschaft gemäss Rousseau: Der Wohlstand ist nicht das Geld, sondern sind die natürlichen Erzeugnisse des Bodens und die Handelsfreiheit für alle Schichten [inklusive kostenlose Bildung].

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Anna Schulthess, Ölgemälde von
                          F.G.A. Schöner 1804



   

  
Anna Pestalozzi-Schulthess; Ölgemälde von F.G.A. Schöner, 1804


Eine weitere Motivation, in die Landwirtschaft zu gehen, ist Pestalozzis Liebesverhältnis zu Anna Schulthess, 8 Jahre älter als er. Nach dem Tod des gemeinsamen  "Patrioten"-Freundes und Vorkämpfers für die Gleichberechtigung aller Schichten Johann Kaspar Bluntschli (Spitzname Menalk) kommt es zum innigen Liebesverhältnis mit der moralischen Verpflichtung, die Ideale von Bluntschli weiterzuentwickeln.

Nach dem Hausverbot der standestreuen Familie Schulthess wird das Verhältnis mit heimlichen Treffs und Briefen aufrechterhalten. So sind aus der Zeit zwischen Frühjahr 1767 und ihrer Heirat im September 1769  noch 468 Briefe erhalten, die über 650 Buchseiten füllen. Darin ausgedrückt sind die leidenschaftliche Liebe Pestalozzis zu Anna, ihr anfängliches Widerstreben und ihr allmähliches, eher kühles Entgegenkommen, dann der Durchbruch ihrer Liebesleidenschaft, das Aufblühen einer beiderseitigen Zuneigung voller Poesie, Humor und Zärtlichkeit, dann ihr gemeinsames Ringen um Wahrheit und Tugend und ihr Kampf für ihre Liebe gegen die reichen Eltern Schulthess mit allen Demütigungen und Verletzungen.

Pestalozzi fühlt sich zu Höherem berufen, kommt zu schonungslosen Selbstreflexionen und rechnet gleichzeitig mit der Hilfe der Schulthess-Verwandtschaft. Er will Rousseaus Erziehungsvorstellungen umsetzen und seine Söhne nicht zu unnatürlichen Stadtmenschen werden lassen. Gleichzeitig sind auch depressive und schwermütige Töne erwähnt, mit Visionen von Krankheit oder Tod. Aber auf alle Fälle will er mit Anna aufs Land und gibt sich der Illusion der idyllischen Bilder des Landlebens hin, mit dem Ziel, das Leben der Menschen zu revolutionieren.

Anna zaudert gegenüber Heinrich Pestalozzis Visionen Wochen und Monate lang, bis sie sich ihrer Liebe sicher ist, bezeugt im Brief vom 19. August 1767. Kurz darauf tritt Pestalozzi im September 1767 seine landwirtschaftliche Lehre an. Durch Freunde und Brüder wird der briefliche geheime Kontakt mit Anna aufrecht erhalten. Dabei behält Pestalozzi aber auch seinerseits einen gewissen Hochmut: Er bricht die Lehre bei Tschiffeli nach nur neun Monaten ab, kehrt nach Zürich zurück und meint, nun sei er bereits ein landwirtschaftlicher Unternehmer...


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Karte Birr bei Schinznach-Bad


Karte von Birr bei Schinznach-Bad


Die Zeit auf dem "Neuhof" bei Birr 1769-1798

Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Neuhofjahre: 1769-1798; http://www.heinrich-pestalozzi.info

Der Erwerb des Landgutes Neuhof bei Birr
Pestalozzi erwirbt in der Nähe des Dorfes Birr (bei Schinznach-Bad, heute Kanton Aargau) ein Bauerngut und lässt ein ziemlich herrschaftliches Haus bauen, den "Neuhof". Pestalozzi verwirklicht in dieser fast 30 Jahre langen Zeit mehrere Projekte, wobei es in manchen Fällen auch nur bei Versuchen bleibt.

Birr gehört zu jener Zeit zu Bern.
(aus: Brühlmeier / Kuhlemann: Pestalozzi als Armenerzieher; http://www.heinrich-pestalozzi.info)








Das Ideal des Bauern und der Bauer Pestalozzi: Die Nachbarn zerstören mit Gewohnheitsrecht die Ernte - Rückzug von Krediten - Missernten führen zum ersten Bankrott

Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Das Ideal des Bauern und der Bauer Pestalozzi; http://www.heinrich-pestalozzi.info

Bei Johann Rudolf Tschiffeli hatte Pestalozzi in der Lehre Obstbau, Feldbau, die Pflanzung und Pflege neuer Gewächse, die Konservierung der Feldfrüchte und des Obstes, die Verbesserung des Bodens durch neue Düngemethoden, all die nötigen ökonomischen Berechnungen und den Umgang mit Käufern und Verkäufern erlernt. Dies sollte reichen für einen Familienunterhalt. Ausserdem stehen Pestalozzi verschiedene Finanzquellen zur Verfügung: ein reiches Erbe seines früh verstorbenen Vaters, ein Darlehen seines Onkels mütterlicherseits, und ein Vorschuss eines Zürcher Bankhauses, das entfernt zur Verwandtschaft seiner Frau Anna gehört.

In verschiedenen Briefen an seinen Schwarm Anna Schulthess äussert er immer wieder, dass seine Tätigkeit als eine Aktivität zum Wohle des Volkes verstanden werden müsse. Pestalozzi erlebt dadurch aber weniger Freuden sondern eher Schmerz, Verzicht und Enttäuschung. Pestalozzi kauft sich im kleinen Dorf Birr von über 50 Bauern gegen 20 Hektar als wenig ertragreich geltendes Wies- und Ackerland und lässt darauf neue Gebäude errichten, den "Neuhof", wo er bis 1798 zu wirtschaften versucht und 1825 wieder zurückkehrt.

1798 bis 1801 wird der "Neuhof" vom einzigen Pestalozzi-Sohn geleitet, nach dessen Tod vom zweiten Ehemann der überlebenden Witwe, schliesslich von Pestalozzis einzigem Enkel Gottlieb. Heute ist der Neuhof eine Erziehungs- und Berufsbildungsanstalt für gefährdete Jugendliche.

Pestalozzi will nun neue Bauernmethoden anwenden: neue Düngemethoden, den Anbau der Esparsette (Onobrychis viciaefolia) als neue Futterpflanze, und die Krapp-Pflanze / Färberröte (rubia tinctorum) mit einem roten Farbstoff für die Textilindustrie.


Saat-Esparsette
Saat-Esparsette
Krapp-Pflanze
Krapp-Pflanze

Aber die Schwierigkeiten häufen sich schon von Anfang an. Der Güterspekulant und Wirt und Metzger in Birr, Heinrich Märki, spielte Pestalozzi übel mit. Die Familie Schulthess lässt ihn mit Ratschlägen in geschäftlichen Dingen auch im Stich. Gleichzeitig hat Pestalozzi aber auch seine Eigenartigkeit, sich nicht gerne beraten zu lassen. Auch seine Frau Anna ist keine sparsame Person, und das Verhältnis zu Nachbarn kann sich auf dieser Basis kaum gut entwickeln.

Argwohn und Misstrauen wachsen, die Nachbarn zerstören ihm seine empfindlichen Pflanzungen, wie wenn es Weideland wäre und sie lassen das Kleinvieh im Brachjahr auf  Pestalozzis Äckern weiden wie bei der alten Dreifelderwirtschaft als vormals ungeschriebenes Recht. Pestalozzi versucht es zuerst mit guten Worten, dann mit Zäunen, und schliesslich mit Gerichtsverfahren, wo er Recht bekommt, aber die Nachbarschaft endgültig verliert. Andere Bauern bringen Pestalozzi bei seinen Geldgebern in Verruf, ja sogar sein eigener Knecht gibt dem Zürcher Bankier an, die Erfolgsaussichten der Pestalozzi-Projekte seien nicht sehr gross.

Am 12. August 1770 erklärt der Bankier das Pestalozzi-Unternehmen für gescheitert und zieht sein Kapital zurück. Es ist noch keine Ernte eingefahren, und der Dachstuhl über dem neuen Haus ist noch nicht einmal errichtet... Da erweist sich der Boden für Krapp-Anbau tatsächlich als ungeeignet. Die europaweiten Missernten 1771 und 1772 verschlimmern die Lage noch, und Pestalozzi versucht es dann Viehwirtschaft, aber ohne jede Kenntnisse. So steigt sein Schuldenberg, und 1774 geht er bankrott, verkauft sein Vieh, verpachtet einen Grossteil des Landes und bleibt trotzdem in den Schulden. Annas Familie begleicht ihm zwar die Schulden, aber nun hat Pestalozzi auch bei den Schwiegereltern seinen Ruf verspielt.


Der Sohn Jean Jacques / Hansjakob: Erziehungsexperimente an einem epileptischen Kind - Infragestellung der Ideale von Rousseau - Schlussfolgerungen zum Mittelweg


Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Der Sohn Hansjakob; http://www.heinrich-pestalozzi.info

Hansjakob Pestalozzi wird am 13. August 1770 geboren und zu Ehren von Rousseau auf den Namen Jean Jacques getauft. Ein Tagebuchfragment über die Versuche, die Erziehung nach den Idealen von Rousseau zu gestalten, bezieht sich auf die Zeit vom 27. Januar bis zum 19. Februar 1774. Pestalozzi zeichnet darin die praktische Umsetzung der Ideale in die Praxis auf, mit der kritischen Begutachtung, was davon funktioniert und was nicht. Bei der Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Gehorsam findet die erste Distanzierung zu Rousseau statt. Als wichtige Erkenntnis kommt Pestalozzi zum Schluss:

"Die Wahrheit ist nicht einseitig." Und er fährt fort: "Freiheit ist ein Gut, und Gehorsam ist es ebenfalls. Wir müssen verbinden, was Rousseau getrennt (hat). Überzeugt von dem Elend einer unweisen Hemmung, die die Geschlechter der Menschen erniederte, fand er keine Grenze der Freiheit." (Kritische Gesamtausgabe, PSW 1, S. 127).


Der Sohn Jean Jacques ("Jacqueli") ist gleichzeitig behindert, mit wenig "Begabung" und hat wiederholt auftretende epileptische Anfälle, die seine Gesundheit schwächen. Gleichzeitig ist der Sohn mit vielen verwahrlosten Kindern der väterlichen Armenanstalt konfrontiert, die ihn noch zusätzlich verderben. Schon mit 3 1/2 Jahren will Pestalozzi dem kleinen Bub das Lesen beibringen, muss 8 Jahre später in einem Brief an Peter Petersen aber zugeben, dass es ein völlig erfolgloses Unternehmen war:

"Er kann keine zwei Linien Gebete auswendig, er kann weder schreiben noch lesen. Ich hoffe zu Gott, diese Unwissenheit, in welcher die Vorsehung mir erlaubt, ihn lassen zu können, werde das Fundament seiner vorzüglichen Ausbildung und seiner besten Lebensgeniessungen sein." (Kritische Gesamtausgabe, PSB 3, S. 132)


Erst als der Sohn 13 Jahre alt ist, können sich die Pestalozzis dazu entschliessen, die Isolation ihres Sohnes auf dem Neuhof zu beenden und ihn auswärts erziehen und schulen zu lassen. Sie überlassen ihn dem Basler Kaufmann Felix Battier mit Peter Petersen als Hauslehrer. Der Briefwechsel ist in den so genannten "Petersenbriefen" zusammengefasst. Sohn "Jacqueli" kommt auf eine Ausbildung nach Mulhouse, macht ab 1785 eine kaufmännische Lehre bei der Familie Battier in Basel und kehrt dann auf den Neuhof nach Birr zurück. 1791 heiratet er Anna Magdalena Frölich und hat mit ihr einen Sohn Gottlieb. "Jacqueli" stirbt früh 1801.Gottliebs Sohn Karl, Pestalozzis Urenkel, bleibt unverheiratet und kinderlos, womit Pestalozzis Linie schliesslich ausstirbt.


Pestalozzi als Armenerzieher: Missernten und mangelnder Kapitalismus führen zum weiteren Bankrott - Isolation

Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Pestalozzi als Armenerzieher; http://www.heinrich-pestalozzi.info

Nach dem Scheitern der Landwirtschaft stellt Pestalozzi auf den Handel mit Baumwolle um: Er bezieht von Schulthess-Verwandten die rohen Baumwollballen und lässt sie in der näheren Umgebung von Birr in Spinnstuben und Webkellern verarbeiten. Für den kapitalistischen Profit ist Pestalozzi aber zu unbegabt. Auch hier müssen seine Geldgeber erneut finanzielle Verluste in Kauf nehmen.

Gleichzeitig ist Pestalozzi aber überzeugt, dass die verelendeten Kinder nur durch Arbeit und Bildung eine Hilfe bekommen können, um ihr Leben später ordentlich zu bestreiten. Er entwickelt den Gedanken einer Armenschule mit Spinnen, Weben und Feldbau, mit geschäftlicher Verankerung in der aufkommenden Textilindustrie. Ab 1773 nimmt er auf dem "Neuhof" arme Kinder in sein Haus auf, bei Kost, Kleidung und Logis, mit Anleitung zur Arbeit und Erziehung. So wird sein Bauernhof 1774 zu einer Armenanstalt, ein neuer Lebensraum für Mittellose zur Bewältigung von Armut, 1776 bereits mit 22 Kindern, 1778 mit 37 Kindern. Weiter lässt er eine Fabrikstube und ein Kinderhaus bauen und stellt Webermeister, Spinnerinnen und Mägde für den Feldbau zur Instruktion der Kinder an. Er selbst erteilt den Kindern Lesen und Rechnen. Ziel sollte sein, die verwarlosten Kinder für ein sittliches Leben in Wahrheit und Liebe zu erwärmen.

Pestalozzi erkennt die gesellschaftliche Situation und seine Rolle, geschildert in den Armenschriften, am deutlichsten in den drei Briefen an den einflussreichen Niklaus Emanuel Tscharner, ein Gönner Pestalozzis aus einer vornehmen Regierungsfamilie der Stadt und des Kantons Bern. Birr ist damals zu Bern gehörendes Gebiet, und Tscharner von 1767 bis 1773 der Landvogt. Tscharner veröffentlicht seinerseits Werke über Armenerziehung 1776/77 in den "Ephemeriden der Menschheit", eine Zeitschrift für politische Ethik, herausgegeben vom Basler Ratsschreiber Isaak Iselin. Der Praktiker Pestalozzi muss dabei so manches in den theoretisch gehaltenen Schriften Tscharners richtigstellen, drei Briefe, die ebenfalls in den "Ephemeriden" veröffentlicht sind.

Pestalozzi bleibt weiterhin zu wenig kapitalistisch, und auch seine Armenanstalt geht bankrott. Pestalozzi gerät in die Schuldenfalle: Er borgt sich Geld bei Freunden, Bekannten, Verwandten und am Ende reicht er 1775 eine Bitte um ein Darlehen an die Öffentlichkeit. Er verspricht seinen Geldgebern die Rückzahlung der geschuldeten Gelder, weil er überzeugt ist, dass die Kinder im Erwachsenenalter den Betrieb profitbringend unterhalten könnten. Pestalozzi täuscht sich aber: Die Kinder werden - frisch eingekleidet, gut genährt und ausgebildet - von den Eltern jeweils weggeholt, um sie profitbringend im eigenen Haus zu beschäftigen. Gleichzeitig mangelt es den Produkten der Armenanstalt an Qualität mit entsprechenden Billigpreisen auf dem Markt ohne genügende Einnahmen.

Weitere Missernten 1776 und 1777 mindern die Einnahmen zusätzlich. Ein Unwetter 1777 vernichtet Pestalozzis Ernte fast vollständig. Die Vorräte für den Winter müssen gekauft werden. 1778 verzichtet seine
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Franziska Romana von Hallwil,
                              Portrait
   


Franziska Romana von Hallwil, Portrait


Frau Anna sogar auf ihr Erbe, damit die Pestalozzis ihre Schulden bezahlen können. Und 1779 muss Pestalozzi etwa einen Drittel seines Landes versetzen lassen. Pestalozzis Bruder Baptist sollte den Handel durchführen und Pestalozzi dann den erlösten Betrag abgeben, aber Baptist macht sich mit der hohen Geldsumme über alle Berge. Am 17. Februar 1780 schreibt er aus Amsterdam einen Reuebrief an Annas Cousin Johann Georg Schulthess, er habe seine liebende Mutter enttäuscht und werde sie nie mehr sehen. Sodann hört man nie mehr etwas von ihm. Eventuell ist er in fremden Kriegsdiensten gestorben oder nach "Amerika" ausgewandert...

In seinem Lebensrückblick im "Schwanengesang" schreibt Pestalozzi:

"Unser Unglück war entschieden. Ich war jetzt arm." (Kritische Gesamtausgabe, PSW 28, S. 234).

Zu diesem Zeitpunkt wollen mit Pestalozzi weder Freunde noch Verwandte etwas zu tun haben. Die Nachbarn verhöhnen ihn zusätzlich. Die Frau Anna Pestalozzi wird von der vielen Arbeit krank und muss sich auswärts über Monate erholen, vor allem bei der Gräfin Franziska Romana von Hallwil, seit 19 Witwe, mit seelischer Freundschaft zu Pestalozzi selbst.

In dieser Situation halten noch zwei Menschen zu Pestalozzi:






Isaak Iselin,
                              Portrait
Isaak Iselin
-- die Magd Elisabeth Näf ("Lisabeth"), die seit 1780 ca. auf dem Neuhof ist (1762-1836) und auf dem Neuhof die verwilderten Gärten in Ordnung hält, von Anna Pestalozzi geachtet und bis 1825 im Pestalozzi-Haushalt

-- der Ratsschreiber Isaak Iselin der Stadt Basel, der Pestalozzi weiter seine Liebe und Hochachtung erweist, ein Vertreter der "Philanthropen" (Menschen- freunde), eine Reformbewegung aller Lebensbereiche in Anlehnung an Rousseau: Er rettet Pestalozzi mit seinen Schreiben an ihn aus der Verzweiflung.

Pestalozzi träumt weiterhin davon, erfolgreich eine Armenanstalt zu führen. Für kurze Zeit wird er in Stans, Burgdorf, und für längere Zeit in Yverdon seine Träume realisieren können.


Der Schriftsteller Pestalozzi: Bücher, Schriften und Bilder als öffentliche Mahnung zur Verbesserung der sozialen Umstände

Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Der Schriftsteller Pestalozzi; http://www.heinrich-pestalozzi.info

Pestalozzi ist bankrott, hält aber an seinem Ziel fest, die sozialen Umstände auf der Welt verbessern zu wollen. Er flüchtet in die Malerei und Schriftstellerei, um die Umstände für die Kinder öffentlich anzuklagen: Von Isaak Iselin dazu ermutigt malt und schildert er die Menschen und ihre Lebensverhältnisse. Es entstehen über 60 grössere und kleinere Schriften, darunter die beiden Volksbücher "Lienhard und Gertrud" (vier Bände, im 4. Band im 41. Kapitel die "Leutnantsphilosophie") sowie "Christoph und Else", des weiteren "Abendstunde", "Über Gesetzgebung und Kindermord", "Schweizer Blatt", "Fabeln" und "Nachforschungen". Pestalozzi zeigt sich dabei als kenntnisreicher Soziologe, mit juristischen und historischen Details, als Romanautor, als Erzieher, Politiker und Philosophen, der sich mit Grundsatzfragen auseinandersetzt.

Die Zeit zwischen 1780 und 1798 gilt bei Pestalozzi als fruchtbarste Zeit des Schreibens und als "Zeit der grossen Lebenskrise". Pestalozzi leidet zunehmend unter seiner eigenen Armut, unter Vereinsamung, unter der Verachtung, und insbesondere unter dem allgemeinen Urteil, er sei unbrauchbar. Im Lernprozess findet er den Weg zwischen der Gutheit und des Egos des Menschen, der beherrscht werden muss. Der Glaube an die inneren Kräfte im Menschen und auch die religiösen Gefühle erkalten, er wird z.T. sogar menschenverachtend. Die Reihe von Bankrotten ist für ihn eine Schande, aber an den Führungsqualitäten arbeitet er weiterhin nicht.

Teilweise ist er weiter auf dem Hofe tätig, betreibt als Kleinunternehmer Heimarteit im Bereich der Stoffdruckerei, knüpft neue Beziehungen mit Persönlichkeiten im In- und Ausland und sucht immer neu nach einem pädagogischen oder politischen Betätigungsfeld. Er spekuliert auf eine Anstellung am kaiserlichen Hof in Wien, die ihm sein Freund Iselin vermitteln könnte, unter dem sozial fortschrittlich gesinnten Kaiser Joseph II. Er schreibt Kritiken über Bücher, vermittelt in politisch angespannten Situationen und bewirbt sich als Stadtbürger von Zürich sogar als Direktor einer Zürcher Seidenfabrik, nur um ein sicheres Auskommen zu haben.

Im Buch "Lienhard und Gertrud" schildert Pestalozzi sich selbst im Briefkontakt mit dem kaiserlichen Finanzminister in Wien, Graf Karl Johann Christian von Zinzendorf, und ab 1787 auch mit dem Bruder des Kaisers, Herzog Leopold von Toscana. Pestalozzi verspricht sich bis etwa 1792 eine innere Erneuerung des Adels durch seine erfolgreichen Werke und dadurch eine Anstellung beim Adel. Nachdem das Werk ohne Wirkung bleibt, wird es 1790/92 gekürzt in drei Bände umgearbeitet. Nach dem Tod von Joseph II. 1790 und dessen Nachfolger Leopold 1792 brechen die Beziehungen Pestalozzis zu Wien ab

Die Schrift "Über Gesetzgebung und Kindermord" ist im Zusammenhang mit der Preisfrage in Deutschland verfasst: "Welches sind die besten ausführbaren Mittel, um den Kindsmord zu verhüten, ohne dabei die Unzucht zu begünstigen?" Die 100 Dukaten Preisgeld - von einem Unbekannten gestiftet - sollten Anreiz zur aufklärerischen Revision der Strafgesetzgebung und des Strafvollzugs sein, um jeweils auch die Beweggründe der jungen Mütter zu ergründen.

Das "Schweizer Blatt" ist eine literarische Wochenzeitschrift Pestalozzis im Jahr 1782 zur Veröffentlichung eigener Texte. Die Texte sind aber dermassen anspruchsvoll, dass das Blatt keinen grossen Absatz findet und noch im selben Jahr wieder von der Bildfläche verschwindet.

Im Jahr 1797 publiziert Pestalozzi sein bedeutendstes philosophisches Werk: "Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts". Es ist der Mittelweg zwischen Ideal, Realismus und Pessimismus, mit Unterscheidung einer  "tierischen", "niederen", "sinnlichen" Natur einerseits und einer "höheren", "ewigen", "inneren", "göttlichen" Natur andererseits. Dieses spannungsgeladene Schema der geistigen Welt behält Pestalozzi während seines ganzen Lebens bei.


Pestalozzi und die Revolution:

Ehrenbürger von Frankreich - das differenzierte Urteil über die Revolution - politische Vermittlungstätigkeiten - der französische Raubzug - Helvetisches Volksblatt


Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Pestalozzi und die Revolution; http://www.heinrich-pestalozzi.info

Auch während der Revolution und des Sturzes der Monarchie in Frankreich ab 1789 meint Pestalozzi noch, "den reinen Absolutismus" mit einer sozialen Durchdringung der Strukturen retten zu können. Am 26. August 1792 wird er aber überraschend neben 16 weiteren bedeutenden Persönlichkeiten Europas als einziger Schweizer durch die französische Nationalversammlung zum Ehrenbürger Frankreichs ernannt. Viele Anliegen der französischen Revolutionäre stimmen mit Pestalozzis Idealen überein, so z.B. ihre Vorstellungen im Bereiche der Handels und Gewerbefreiheit, der Pressefreiheit, der Religionsfreiheit, der Beseitigung ungerechter Abgaben, des Steuerrechts und der Verbesserung der Volksbildung. Es gibt aber auch deutliche Unterschiede bei der Gleichheit, die Pestalozzi nie besonders hoch wertet, und beim Verständnis der Freiheit, die Pestalozzi sehr differenziert betrachtet.

Ab der Ernennung zum Ehrenbürger Frankreichs ist der demokratische Gedanke bei Pestalozzi allgegenwärtig. Über die Revolution urteilt er aber differenziert, lehnt jedes Blutvergiessen und Gewalt ab, z.B.  in seiner nie gedruckten Revolutionsschrift "Ja oder Nein?". Ludwig XIV. habe alle Menschen gleich schlecht gemacht, und so benehmen sie sich in der Revolution auch als solche. Die Revolutionäre vollenden bloss, was der Absolutismus an Boden gelegt hat.






Johann Kaspar Lavater     


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Johann Kaspar Lavater, Pfarrer am Fraumünster


Auch in der Schweiz erheben sich nun unterdrückte Bevölkerungsschichten gegen die etablierten Aristokratien. Die Neureichen der Textilindustrie verlangen politische Rechte, eine Verfassung mit Rechten für die Einwohner der Landschaft, Handelsfreiheit, Gewerbefreiheit, höheren Schulbesuch auch für Landkinder, die Offiziersausbildung auch für Landkinder, ein gerechtes Steuersystem mit Belastung auch der Händler, Industriellen und Bürger der Stadt und mit Entlastung der Bauern und mit der Forderung, dass kleinere Gemeinden und Städte die Rechte zurückerhalten, die die Städte ihnen geraubt hatten. Als die Städte mit Verhaftungen und Verbannungen reagieren, wird Pestalozzi zum Anwalt des Volkes und verfasst drei Schriften. Am 5. Juli 1795 besetzt Zürich überraschend die Stadt Stäfa. Die Vermittlung von Pestalozzi zusammen mit seinem Jugendfreund und Fraumünsterpfarrer Johann Kaspar Lavater kann Todesurteile verhindern.

Ab 1793 beginnt Napoleon mit seiner kriegerischen Strukturreform in ganz Europa mit Feldzügen in Italien, 1794 in der Schweiz. Pestalozzi rechnet damit, dass Frankreich Druck ausüben und die Schweiz den Strukturwandel so selber schaffen könnte. Dabei übersieht Pestalozzi den Geldhunger des französischen Staates. Im Februar 1798 wird der Landbevölkerung in der ganzen Schweiz die Gleichberechtigung zugestanden mit Versprechen einer auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
    

Napoleon



Napoleon lässt rauben
und vergewaltigen...

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beruhenden Verfassung, und trotzdem rücken die Franzosen Anfang März 1798 mit 15'000 Mann ein, brechen den letzten Widerstand, besetzen das Land, rauben die Staatskassen aus, indem sie das Gold fassweise auf schweren Ochsenkarren nach Paris abführen, plündern das Land aus und schänden Frauen und Töchter. Der Zürcher Pfarrer Lavater beschwört in einer Proklamation den Widerstand.

Frankreich etabliert in der Schweiz einen zentralistischen Einheitsstaat ("Helvetische Republik") mit willkürlicher neuer Einteilung der Kantone, die aber nur noch die ausführende Funktion des Grossen Rates (Legislative) und des fünfköpfigen Direktoriums (Exekutive) sind. Die fortschrittliche Verfassung gewinnt so keine Sympathie trotz eines wahrhaften Weitblicks der bedeutenden Männer des Direktoriums. Pestalozzi sieht gleichzeitig seine seit 30 Jahren geäusserten sozialen und politischen Forderungen erfüllt und entschliesst sich trotz der undemokratischen Struktur, dem Staate zu dienen. Als Freund einer der
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Philipp Albrecht Stapfer
                          (1766-1840)
    


Philipp Albrecht Stapfer (1766 -1840)

fünf Direktoren, Philipp Albrecht Stapfer, übernimmt er die Redaktion des "Helvetischen Volksblatts", das eigentliche Sprachrohr der helvetischen Regierung. In dieser Funktion als Redaktor, aber auch in zahlreichen Flugschriften versucht nun Pestalozzi, dem Volk den Sinn und die Chance der Revolution verständlich zu machen, ermahnt aber gleichzeitig auch die neuen Machthaber, sich wirklich an ihre Versprechen zu halten.

Da die Revolutionäre auch die Kirche und das Christentum massiv angreifen und den Pfarrern jede politische Tätigkeit verbieten, Predigten und das Lehren sogar polizeilicher Kontrolle unterstellen, gewinnt die neue Verfassung keine Freunde. Mit fremden Truppen im Land und einem unter Waffengewalt erzwungenen Eid auf die neue Verfassung fühlt sich die Bevölkerung sowieso nicht frei. Daher bleibt Pestalozzis Tätigkeit als Redaktor ohne Erfolg. Seine belehrenden und oft herablassenden Texte wirken unangebracht. Trotzdem bleibt er bis Ende 1798 Leiter der Zeitung "Helvetisches Volksblatt".


Die Zehntenfrage: Abschaffung der Zehnten-Steuer, ohne allgemeine Steuergesetze geschaffen zu haben - Pestalozzi-Schriften zum Zehnten - Untergang der "Helvetischen Republik"

Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Die Zehntenfrage; http://www.heinrich-pestalozzi.info

In besonderer Weise engagiert sich Pestalozzi in der Frage des "Zehntens". Durch die Abgabe von 10 % der Landwirtschaftserträge sollte der Lebensunterhalt von Seelsorgern im Dienst der christlichen Verkündigung finanziert werden. Mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft wird die Abgabe zu einer Steuer an Kirche und Klöster. Nach der Reformation und nach der Aufhebung der Klöster wird die nur von den Bauern entrichtete Zehnten-Steuer vom Staat eingetrieben zur Finanzierung von Schulen, Spitälern, Armenanstalten, Kirchen und Privatpersonen. Die Aristokratie bleibt aber weiterhin steuerfrei, und reiche Bauern können sich von der Zehnten-Steuer loskaufen, z.B. durch Zusatzverdienste in der Baumwollindustrie. Traditionell haben sich die Bauern der Innerschweiz (Uri, Schwyz, Unterwalden) längst von der Zehntenpflicht losgekauft.

Die Franzosen versprechen bei ihrem Einmarsch im März 1798 die Abschaffung der Zehnten-Steuer. Dann agieren die Franzosen aber überhastet, schaffen bereits im Mai 1798 schaffen alle Feudallasten ab, ohne aber ein allgemeines Steuergesetz geschaffen zu haben. So bleibt der Staat ohne Einnahmen. Die Bevölkerung streitet währenddessen, ob der Zehnten als eine öffentliche Abgabe oder eine privatrechtliche Schuld zu gelten habe. Im zweiten Fall ergibt sich die Notwendigkeit des Loskaufs im Sinne der Rückerstattung einer Schuld.

Pestalozzi veröffentlicht zum Zehnten-Thema im Sommer 1798 das sog. "Erste Zehntenblatt" ("Über den Zehnten"), eine Schrift in der Form eines Bauerngesprächs. Pestalozzi zeigt darin einerseits, dass der Zehnten ungerecht ist, den landwirtschaftlichen "Fortschritt" hemmt und eine allgemeine Vermögenssteuer angebracht wäre. So entwickelt er den Plan, die oft brach liegenden Gemeindegüter zu privatisieren, sie dadurch einer intensiveren Nutzung zuzuführen und gleichzeitig mit dem Erlös die bisherigen Besitzer der Zehntrechte zu entschädigen. Damit wäre wieder eine Win-Win-Situation geschaffen bei einem Lastenausgleich für den gesamten sozialen Organismus.

Pestalozzis schwer verständliche Schrift wird aber weitherum missverstanden und man beschimpft ihn als Anhänger der "Zehntendiebs-Bande". Pestalozzi lässt ein  "Zweites Zehntenblatt" folgen: "Abhandlung über die Natur der helvetischen Zehnten und Bodenzinse und die Unpassendheit aller ihrethalben in der Revolutionszeit genommenen Massregeln". Er stellt die Entwicklung des Zehntens vom Mittelalter her einleuchtend dar und weist schlüssig nach, wie aus einer ursprünglich privatrechtlichen Abgabe allmählich eine ungerechte öffentliche Steuer wurde und dass ein Loskauf die Bauernschaft ruinieren müsste. Gleichzeitig sieht er aber, wie sich die Situation der neuen Helvetischen Republik katastrophal verschlechtert und zur Rettung des neuen Staates alle andern Ziele untergeordnet werden müssen. Es geht ihm wiederum in erster Linie um das Wohl des Ganzen. Darum fordert Pestalozzi die Bauern am Ende der Schrift auf, den Zehnten zu entrichten, bis neue Gesetze die Einkommen des Staates regeln. Aber niemand hört auf Pestalozzi, und die "Helvetische Republik" geht dann auch bald unter...


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Stans und der Stanser Brief: 1798-1799 - das politische Ende eines Waisenhauses im Frauenkloster - ganzheitliches Erziehungskonzept im Stanser Brief

Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Stans und der Stanser Brief: 1798-1799; http://www.heinrich-pestalozzi.info



Grob:
                            Pestalozzi in Stans mit Kindern. Ölgemälde
                            von K. Grob, 1879 (Kunstmuseum Basel).
Pestalozzi in Stans mit Kindern. Ölgemälde von K. Grob, 1879 (Kunstmuseum Basel).
Pestalozzi in Stans mit Kindern im
                            Sonnenlicht. Ölgemälde von A. Anker, 1870
                            (Kunstmuseum Zürich).
Pestalozzi in Stans mit Kindern im Sonnenlicht. Ölgemälde von A. Anker, 1870 (Kunstmuseum Zürich).


Die Eröffnung der Armenanstalt unter den Spannungen der französischen Besetzung

Stans wird zum Ausgangspunkt des Mythos "Pestalozzi", vor allem durch die beiden bekannten Ölgemälde von Grob (1879) und Anker (1870): Pestalozzi als Waisenvater inmitten von Kindern im Sonnenlicht. Die
    

Karte des Kantons Niedwalden mit der
                            Position von Stans



vergrössernKarte: Die Lage von Stans und die Bezirke des Kantons Niedwalden.

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Realität aber ist viel komplexer.

Nach dem französischen Einmarsch und dem endgültigen Zusammenbruch der "Alten Eidgenossenschaft" macht Pestalozzi bereits im Mai 1798 erste Angebote zur Verwirklichung seiner Volkserziehungspläne. Das Direktorium - die fünfköpfige Exekutive der "Helvetischen Republik" - bewilligt auch einen grösseren Geldbetrag für die Einrichtung eines Instituts. Es fehlt aber ein geeigneter Standort.

Gleichzeitig nehmen die Spannungen innerhalb der "Helvetischen Republik" wegen der Bildung eines Zentralstaates immer mehr zu. Die Innerschweizer sehen z.B. ihren katholischen Glauben bedroht und Frankreich antwortet mit Strafexpeditionen, so dass am Ende nur noch Niedwalden gegen Frankreichs Zentralpolitik hält. Pestalozzi äussert sich im "Helvetischen Volksblatt" für einen französischen Einmarsch, weil die Einheit des Staates auf dem Spiel stehe. Naiv glaubt er an friedlich patrouillierende französische Soldaten. Niedwalden wird aber nicht nur besetzt, sondern auch gebrandschatzt: Auch Stans wird abgebrannt. Bei dieser Gelegenheit wird von der Regierung beschlossen, in Stans eine Anstalt für die verwaisten Kinder zu eröffnen und dem reformierten Pestalozzi die Leitung des Hauses zu übertragen.

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Wasserschloss Hallwil

Wasserschloss Hallwil


    
Die Eröffnung der Armenanstalt von Pestalozzi am 14. Januar 1799 im ehemaligen Frauenkloster [St. Klara] von Stans steht unter keinem guten Stern: Die Bevölkerung ist katholisch, und Pestalozzi hat die Besetzung befürwortet. Unterstützung erhält Pestalozzi einzig vom katholischen Pfarrer von Stans, Businger, der Neuerungen aufgeschossen ist. Nach 6 Wochen sind bereits über 80 Kinder aufgenommen, nur von Pestalozzi und einer Magd betreut. Pestalozzi rechnet damit, nun all seine pädagogischen Ideen seit 20 Jahren in die Praxis umsetzen zu können. Seine Frau Anna Pestalozzi ist derweil auf Schloss Hallwil bei der Gräfin Franziska Romana. Seine Vision, dass er "eine der grössten Ideen des Zeitpunkts" verwirklichen würde, kommt u.a. in Briefen nach Hallwil zum Ausdruck (Kritische Gesamtausgabe, PSB 4, S. 18).



Die Struktur im Armenhaus: Sittlichkeit in drei Stufen: Fühlen, Handeln und Denken - die Gegner bewirken die baldige Schliessung - Militärlazarett - "Stanser Brief" 1799

Im Vordergrund steht sittliche Erziehung in einer konkreten Lebensgemeinschaft und in Auseinandersetzung mit den Erfordernissen des Alltags. Die Sittlichkeit soll sich dabei in drei Stufen entwickeln, mit der
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Heinrich Zschokke, Portrait


Heinrich Zschokke: Der ursprüngliche Brandenburger betreibt den Misserfolg von Pestalozzi [vielleicht auch aus politischen Gründen als Rache, dass Pestalozzi den französischen Einmarsch befürwortet hatte, statt sich an der deutschen Seite zu orientieren? Wir wissen es nicht].
    
Befriedigung primärer Bedürfnisse als erstes, mit dem Antrainieren von Gewohnheiten im Tun des Guten und als drittes in Konversation über Sittlichkeit. Fühlen (Herz), Handeln (Hand) und Denken (Kopf) sollten gleichsam den Willen sittlich beherrschen lernen. Sittlichkeit soll nicht mit rationaler Einsicht, sondern im emotionalen Bereich verwurzelt werden. Schule findet zwischen 6 und 8 Uhr am Morgen und 4 und 8 Uhr am Abend statt, dazwischen handwerkliche Ausbildung. Zur Organisation der Verbindung von Praxis und gedächtnismässigem Lernen bleibt ihm kaum Zeit.

Die Armenanstalt hat aber grosse Gegner: Heinrich Zschokke, Regierungskommissar in Luzern, will den allseits heftig kritisierten Pestalozzi nicht mehr länger dulden, und auch der Stanser Pfarrer Businger wendet sich mehr und mehr mit der Meinung der Bevölkerung gegen Pestalozzi. So erscheint es praktisch, dass das  ehemalige Frauenkloster in Stans in ein französisches
    
 
Karte: Gurnigelbad zwischen Bern und
                          Thun



vergrössernKarte: Position des Gurnigelbad zwischen Bern und Thun.

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Militärlazarett umgewandelt werden kann. Die Kinder werden auf Verwandte verteilt, und nur 22 bleiben in Obhut: bei Pfarrer Businger.

Pestalozzi verlässt Stans am 9. Juni 1799, physisch überarbeitet und im psychischen Schock wegen des plötzlichen Abbruchs seines Erziehungswerks. Es folgen einige Wochen Erholung im Gurnigelbad im Berner Oberland beim Wirt Zehender und die Niederschrift seiner Erfahrungen und Überlegungen im bis heute viel zitierten und interpretierten "Stanser Brief": "Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans".

Der Empfänger des Stanser Briefs ist nicht mehr feststellbar. Mögliche Empfänger des Briefs sind der Zürcher Buchhändler Heinrich Gessner, der auch der Adressat der 14 Briefe "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" war, oder der pädagogisch interessierte Sekretär des helvetischen Ministers Stapfer, J. R. Fischer, der Pestalozzi den Aufenthalt im Gurnigelbad vermittelt hatte. Die Veröffentlichung des Briefs erfolgt erst 1807 zusammen mit Anmerkungen Niederers während des Aufenthalts von Pestalozzi in Yverdon im ersten Band der "Wochenschrift für Menschenbildung". Im 9. Band der Cotta-Ausgabe von 1822 erscheint der Brief dann ohne Niederers Anmerkungen. Dieser Ausgabe folgt die Wiedergabe in der kritischen Gesamtausgabe von Pestalozzis Werken: PSW 13, S. 1-32.

Der "Stanser Brief" lässt erahnen, unter welchen Schwierigkeiten Pestalozzi stand:

-- es galt, die Situation der Kinder zu verstehen

-- es galt die Vorbehalte gegen Pestalozzi als Vertreter der Helvetischen Republik und als Reformierter zu überwinden (Kritische Gesamtausgabe, PSW 13, S. 5 und S. 8-9).

-- es galt, die Gemeinde auf einen Zusammenhang von öffentlicher und häuslicher Erziehung aufmerksam zu machen

-- es galt, die drei Stufen der sittlichen Erziehung zu realisieren: "Allseitige Besorgung" und Aufbau von Vertrauen, sittliches Handeln, zuletzt die Reflexion und das Gespräch darüber
 (Kritische Gesamtausgabe, PSW 13, S. 9-10, S. 16 und S. 19; und PSW 13, S.8)

-- Realisierung der Verbindung von Unterricht und manueller Industriearbeit - Kinder sollen sich untereinander helfen - Elementarisierung des ersten Unterrichts, damit die Mütter die Erziehung zum Teil interaktiv übernehmen können (Kritische Gesamtausgabe, PSW 13, S. 26, S. 29 und S. 30).

[Ein grosser Fehler der Pestalozzi-Pädagogik: Traumatische Besorgungen

Die Verrichtung "allseitiger Besorgungen" ist für die Kinder absolut langweilig. Die Kinder müssen keine "allseitigen Besorgungen" machen, um Vertrauen gegenüber pädagogisch ausgebildeten Leuten aufzubauen. Die Verrichtung "allseitiger Besorgungen" wirkt gegen die Phantasie, so dass die Kinder oft inneren Widerstand gegen die Leitpersonen entwickeln. Kinder, die gerne die Verrichtungen machen, werden auch von anderen Kindern angefeindet. Eine weitere Folge ist, dass "ungezogene" Kinder jeweils auch mit den Besorgungen bestraft werden und dass die "Besorgungen " dann traumatische Wirkung haben].


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Burgdorf und Münchenbuchsee: 1799-1804/05: Erfolge durch Anschauungsunterricht - die Mediationsverfassung unter Mitwirkung von Pestalozzi in Paris

Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Burgdorf und Münchenbuchsee 1799-1804/05; http://www.heinrich-pestalozzi.info


Der Entschluss, Lehrer zu werden - erfolgreicher Anschauungsunterricht in Burgdorf

Pestalozzi ist weiterhin sehr beunruhigt über die desolaten Zustände in den meisten Dorfschulen. In "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" schildert er die "unpsychologischen Schulen" als "künstliche
   


Karte Burgdorf und Münchenbuchsee

vergrössernKarte: Die Positionen von Burgdorf und Münchenbuchsee.

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Erstickungsmaschinen". Ab dem fünften Altersjahr

"macht man auf einmal die ganze Natur um sie her vor ihren Augen verschwinden; stellt den reizvollen Gang ihrer Zwanglosigkeit und ihrer Freiheit tyrannisch still; wirft sie wie Schafe in ganze Haufen zusammengedrängt in eine stinkende Stube; kettet sie Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre unerbittlich an das Anschauen elender, reizloser und einförmiger Buchstaben und an einen mit ihrem vorigen Zustand zum rasend werden abstechenden Gang des ganzen Lebens."

Pestalozzi vergleicht diesen Vorgang als einen Schritt "vom Leben zum Tode" (Kritische Gesamtausgabe, PSW 13, S. 198-199).

[Aber mit den "allseitigen Besorgungen tötet man die Phantasie der Kinder ebenfalls].

Pestalozzi will nun 53-jährig auch noch Lehrer werden, ein damals schlecht bezahlter und verachteter Beruf. Der helvetische Erziehungsminister Stapfer hätte Pestalozzi lieber die Leitung einer neu zu errichtenden
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Das Schloss Burgdorf um 1760
Das Schloss Burgdorf um 1760

    

Lehrerbildungsanstalt übertragen, denn eine geordnete Lehrerbildung fehlte dem neuen Staat. Aber Pestalozzi wollte zuerst seine Erfahrungen mit kleinen Kindern machen. Stapfer ernennt seinen Sekretär Rudolf Fischer zum Seminardirektor und weist ihm das Schloss Burgdorf als Wirkungsstätte zu. Fischer ermöglicht Pestalozzi eine Stelle am Schloss in Burgdorf.

Die skeptischen Stadtbehörden lassen Pestalozzi aber vorerst nur an der sog. Hintersassenschule zu. Pestalozzi revolutioniert nun den Schulunterricht: Er sucht eine natürliche, psychologische Art zu unterrichten. Beim Lernvorgang sollen alle Sinne gleichzeitig angesprochen sein. Schulbücher braucht es nicht. Dem Lesen sollte das Denken vorausgehen, und alles Erkennen sollte auf Anschauungsunterricht beruhen. Nach acht Monaten werden seine Schüler geprüft, und die Erfolge sind so deutlich, dass man ihm eine der höheren Knabenklasse in der Stadt anvertraut.

Seminardirektor Fischer eröffnet gleichzeitig sein Seminar, erkrankt aber schwer und stirbt kurz darauf (4. Mai 1800). Pestalozzi kann nun seine Knabenklasse mit der von Fischer gegründeten Schule auf dem Schloss vereinigen und legt so den Grundstein für sein Erziehungsinstitut in Burgdorf, eine Verbindung von Knabenschule, Pensionsanstalt für auswärtige Schüler, Lehrerseminar und Waisenhaus bzw. Armenschule. Das Unterrichten sollte in eine Lebensgemeinschaft eingebettet sein, in der die Kräfte von Kopf, Hand und  Herz harmonisch entfaltet werden können. Pestalozzi gewinnt für seine Idee eine Reihe tüchtiger Mitarbeiter, und die helvetische Regierung unterstützt das Unternehmen sehr.

Das Seminar hat hohen Zulauf. Pestalozzi arbeitet mit seinen Mitarbeitern intensiv an der Entwicklung einer neuen Unterrichtsmethode, um gegenüber der Öffentlichkeit pädagogisch eine klare Rechenschaft ablegen zu können. Es entstehen mehrere kleinere Schriften, darunter die grundlegende Schrift "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt". Pestalozzi wird zum grossen Erzieher und Erneuerer der Volksschule. Gelehrte und Politiker kommen zu Hunderten aus allen Ländern, um Pestalozzi und seine Mitarbeiter bei der Arbeit zu sehen und die Unterrichtserfolge zu bestaunen. Burgdorf wird - wie später Yverdon - zur Pflichtstation auf den in Mode kommenden Bildungsreisen in die Schweiz und nach Italien.

Am 15. August 1801 stirbt Pestalozzis einziger Sohn Jean Jacques mit erst 31 Jahren. Dessen Ehefrau zieht zu Pestalozzi nach Burgdorf, und ein Jahr ebenso Pestalozzis Frau Anna.


Bürgerkrieg gegen den Einheitsstaat - Ausarbeitung der Mediationsverfassung in Paris mit Pestalozzi - Pestalozzis Forderungen für die neue Staatsform der Schweiz

Nach dem Rückzug der französischen Truppen aus der Schweiz 1802 geht der Bürgerkrieg für oder gegen einen helvetischen Einheitsstaat  in eine weitere Runde. Napoleon lässt daraufhin die Schweiz erneut besetzen und befiehlt für den Winter 1802/1803 eine Versammlung von schweizer Abgeordneten nach Paris zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung (Mediationsverfassung). Pestalozzi wird sowohl von seiner Heimatstadt Zürich als auch von der Stadt Burgdorf nach Paris entsandt, reist dann aber vorzeitig wieder ab und nimmt nicht mehr am feierlichen Schlussempfang am 19. Febr. 1803 in den Tuilerien teil. Er verpasste damit die einzige Gelegenheit, Napoleon direkt zu begegnen.

In verschiedenen Denkschriften fordert Pestalozzi nun neue staatliche Strukturen:

-- keine Wiedereinführung des Zehnten

-- kein Zensus (Wahlrecht nach Vermögen)

-- gerechtere Steuerbelastung

-- Ausbau der allgemeinen Volksbildung.

In der Mediationsverfassung von 1803 fehlt jedoch ein Erziehungsartikel, und der lockere Bund der weitgehend selbständigen Kantone wird wieder eingeführt. Die Zürcher Kantonsverfassung beispielsweise definiert politische Freiheit und Gleichheit der Bürger, schränkt aber durch Zehntrechte und Zensuswahlrecht die Gleichheit wieder ein. Eine volle Gleichberechtigung erfahren nur die besitzenden Oberschichten, und Pestalozzis Denkschriften hatten (noch) keine durchschlagende Wirkung.


[Die Napoleonischen Vorgänge waren auch mit Gebietsverlusten für die Schweiz verbunden]:


Karte der Schweiz 1789
vergrössernKarte der Schweiz 1789

Karte der Schweiz 1806
vergrössernKarte der Schweiz 1806


Pestalozzis Erziehungsbuch: "Buch der Mütter oder Anleitung für Mütter ihre Kinder bemerken und reden zu lehren" 1803

Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Yverdon 1804-1825; http://www.heinrich-pestalozzi.info

Bereits 1803 erscheint diese Anleitung Pestalozzis für die Mütter (Kritische Gesamtausgabe, PSW 15, S. 341-424), weitgehend bearbeitet von seinem Mitarbeiter Hermann Krüsi. Die wichtigsten Themen sind die Anschauung von Problemen, die Erkenntnis der Situation und die Erkenntnis der betroffenen Menschen selbst. Das Buch enthält Übungen im Anschauen und Benennen des eigenen Körpers und der durch den Körper möglichen Tätigkeiten. Für Pestalozzi ist dieses Werk aber erst ein Versuch, ein erster Anfang.


Pestalozzi ohne Zentralstaat - Bern lässt Schloss Burgdorf räumen - Münchenbuchsee - Zusammenarbeit mit Fellenberg scheitert - Schloss Yverdon auf Lebenszeit für Pestalozzi

Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Burgdorf und Münchenbuchsee 1799-1804/05; http://www.heinrich-pestalozzi.info

Für Pestalozzi hat die neue Mediationsverfassung schwerwiegende Auswirkungen, denn die Unterstützung durch die Zentralregierung ist verloren. Berns Regierung verlangt auch die Schliessung des Instituts auf den 1. Juli 1804, um dem neuen Berner Oberamtmann eine Residenz einzurichten. Pestalozzis Institut zieht zuerst in ein verfallenes Kloster in Münchenbuchsee, in Nachbarschaft zu einem Mustergut und einer Erziehungsanstalt in Hofwil unter Leitung von Philipp Emanuel von Fellenberg. Fellenberg besticht durch ökonomisches Denken. Die Zusammenarbeit mit Pestalozzi scheitert im Jahr 1804 genau am ökonomisch kurzsichtigen Denken: Fellenberg duldet nicht, dass Pestalozzi Zöglinge aus armen Verhältnissen gratis in seine Anstalt aufnimmt.

Nun aber scheint Pestalozzi endlich Glück zu haben: Der neu gegründete Kanton Waadt (Vaud, zuvor bernisches Besatzungsgebiet) stellt Pestalozzi nach dem Abzug der Berner Vögte das Schloss Yverdon (deutsch Iferten) für sein Erziehungsinstitut auf Lebzeiten unentgeltlich zur Verfügung.


Karte des Kanton Waadt mit Yverdon /
                          canton de Vaud avec Yverdon
Karte des Kanton Waadt mit Yverdon



Schloss Yverdon / château (Iferten)
Schloss Yverdon (Iferten)

[Die viereckige Burgarchitektur mit Rundtürmen an den Ecken ist eine Nachahmung arabischer Architektur aus Palästina, kopiert zur Zeit der Kreuzzüge].


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Yverdon (Iferten): 1804-1825: Blühendes Pestalozzi-Institut - Verluste durch Druckerei - Lehrerstreit - Einnahmen durch Publikationen - Clendy

Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Yverdon 1804-1825; http://www.heinrich-pestalozzi.info


Gemeinsam mit drei Lehrern baut Pestalozzi ab August 1804 im Schloss Yverdon (Iferten) sein neues Institut auf. In Münchenbuchsee macht sich Fellenberg durch selbstherrische Entscheide bei Pestalozzis Leuten und Kindern unbeliebt, so dass diese ab 1805 ebenso nach Yverdon umsiedeln. Pestalozzis Institut strahlt nun als pädagogischer Impuls vor allem nach Deutschland, besonders nach Preussen, aber auch nach Frankreich, Spanien, Italien, England, Russland und "Amerika" aus. Pestalozzi richtet zur Leitung des Instituts eine Kommission ein, der neben Pestalozzi noch vier weitere Mitarbeiter angehören. Jedes Unterrichtsfach erhält einen von der Kommission gewählten Oberaufseher.


Pestalozzis Institut schreibt Verluste vor allem wegen einer Druckerei

Das Institut erlebt bis 1809 eine Blütezeit mit 165 Buben, 31 Lehrern und Unterlehrern, 32 Seminaristen und 10 Mitgliedern der Familie Pestalozzi mit ihren Hausangestellten,  insgesamt also knapp 250 Personen. Gleich neben dem Schloss ist gleichzeitig ein Töchterinstitut angeschlossen, nach dem Prinzip der geschlechtergetrennten Erziehung und Schule. Pestalozzi ist aber in kapitalistischer Hinsicht weiterhin nicht lernfähig: Das Institut arbeitet ohne Haushaltsplan und ohne geordnete Buchführung. Pestalozzi verlangt für den Unterricht zu wenig und fast einen Drittel der Schüler dürfen gratis teilnehmen. Die Lehrer arbeiten nur bei Unterkunft und Verpflegung, und die angeschlossene Buchdruckerei fährt immer hohe Verluste ein.

Gleichzeitig versucht Pestalozzi, die Armenanstalt auf dem Neuhof wieder zu aktivieren, bekommt aber von der Regierung 1807 keine Unterstützung.

[Wenn Pestalozzi ein Diplom in Buchhaltung hätte vorweisen können, hätte die Regierung vielleicht anders entschieden...]


Die Unterrichtsgestaltung: 60 Stunden Schule pro Woche - Experimente

Gruppenarbeit und Gruppenunterricht herrschen vor. Schüler unterrichten ihre Mitschüler. Die Unterrichtszeit beträgt etwas das Dreifache der heute üblichen Unterrichtszeiten in Deutschland und der Schweiz, ca. 60 volle Stunden pro Woche. Fächer sind Mathematik (Arithmetik und Algebra), Formenlehre, Zeichnen, Geographie, Geschichte, deutsche und französische Sprache, Religionslehre, Naturkunde (Chemie, Physik, Zoologie, Botanik), Latein, Gymnastik, Gesang, Buchhaltung und Briefe schreiben. Der Stundenplan ist aber nicht immer gleich, denn Pestalozzis Institut versteht sich als eine Versuchsschule. Zu gewissen Zeiten werden den Kindern täglich eine oder mehrere Stunden zum individuellen Lernen eingeräumt.

Die Voraussetzungen bei den Zöglingen sind dabei sehr unterschiedlich von Hochbegabung, Normalbegabung, bis zu Minderbegabung, Verhaltensgestörte und Schwererziehbare. Das Mindestalter der Schüler ist 7 Jahre. Schüler über 11 Jahre werden nur noch ausnahmsweise aufgenommen. Mit 15 Jahren erfolgt die Entlassung oder die Beschäftigung als Seminarist.

Der Unterricht findet oft im Freien statt zur Beobachtung, Beschreibung und zur Kopie von Pflanzen, Landschaftsformen, Tieren oder Gesteinen. Auch Hand- und Gartenarbeit hat für Pestalozzi grossen Wert. Der Umgang mit Säge, Hammer und Hobel bis zur Drehbank wird systematisch beigebracht. Die Schüler helfen im Haushalt, in der Buchdruckerei und Buchbinderei des Instituts, arbeiten zeitweise in den Werkstätten der Schreiner, Mechaniker, Uhrmacher und Drechsler von Yverdon, und sie halten Tiere (Kaninchen) und bestellen ihre eigenen Gartenbeete.


Zusammenarbeit mit den Eltern - wochenlange Schülerwanderungen - Sport und Spiel

Pestalozzi richtet eine intensive Zusammenarbeit mit den Eltern ein und fordert diese sogar auf, Kritik offen auszusprechen. Täglich können Besucher in den Schulzimmern Einblick erhalten. Die Klassenlehrer sind verpflichtet, die Eltern jeweils über die Fortschritte des Kindes zu orientieren. Noten und Zeugnisse gibt es nicht. Pestalozzi will nicht Kinder miteinander vergleichen, sondern Kräfte und Anlagen im Kind ohne Leistungsmessung fördern.

Ferien werden in Form von wochenlangen Schülerwanderungen durchlebt, in die Alpen und ins umliegende Ausland, mit einer Vorbereitung durch die Lektüre von Ortsbeschreibungen, Reisebeschreibungen, Landkartenstudium, auf der Wanderung dann mit direkter Anschauung als Bestandteil des Naturkunde- und Geographieunterrichts.

Sport und Spiel ist im Institut Alltag, mit Schwimmen im See, im Winter mit dem Bau von Schneeburgen und Schlittschuhlauf.


Das Prinzip der Grossfamilie - Pestalozzi bleibt ohne Führungsqualitäten - Streit der Lehrer unter sich

Es gilt das Zusammenleben einer Grossfamilie. Oberlehrer wie Unterlehrer (16-20-jährige Seminaristen) geniessen weitgehende Freiheiten wie auch die Schüler, ohne feste Vorschriften oder Verbote. Entscheidungen sind individuell von Fall zu Fall zu fällen. Die Buben laufen im Sommer barfuss und ohne Hut (wie sonst immer Pflicht). Die natürliche Bewegung sollte nicht gehemmt werden. Ehrgeiz, Demütigung, Zorn, Misstrauen und Körperstrafe sind verpönt. Die Lehrer können nur ihre Autorität, Ausstrahlung und Überzeugungskraft einsetzen, leben, essen und schlafen im selben Raum wie die Buben.

Pestalozzi sieht sich selbst als Vater und geistiger Impulsgeber, lässt sich auch "Vater Pestalozzi" nennen, ist schriftstellerisch beschäftigt und überwacht die Lehrerarbeit, lässt sich Schülerberichte geben, empfängt die Besucher und verfasst die täglichen Mahnworte an die Grossfamilie, hält an Feiertagen grosse Reden etc. Pestalozzi kann sich aber von seinen Widersprüchen weiterhin nicht befreien. Er ist weiterhin keine Führerpersönlichkeit. Über 15 der insgesamt 20 Jahre in Yverdon (Iferten) sind durch Streit unter den Lehrern vergiftet, z.T. publizistisch und sogar juristisch ausgetragene Auseinandersetzungen. Der Ruf des Instituts leidet und der Ruin ist absehbar.

Einer der Gründe ist eindeutig in Pestalozzi mangelnden Organisations- und Führungsqualitäten zu suchen. So schreibt beispielsweise Karl Justus Blochmann, der von 1809-1816 Lehrer in Yverdon war:

"So oft, wenn ich den Unvergesslichen [Pestalozzi] anschaute, als ich ihm noch nahe stand, erschien er mir wie ein gross gewordenes Kind mit aller Herrlichkeit der kindlichen Natur, aber auch mit den Schwächen und Unvollkommenheiten derselben. Die Reinheit und Unschuld, der Glaube und die Liebe, die Milde und Hingebung des Kindes schmückten und adelten seine Seele bis ins Greisenalter, aber die Ruhe und Besonnenheit, die Umsicht und Vorsicht, die klare Herrschaft über Zustände und Personen, die den Mann zieren, mangelten ihm in hohem Grade. [...] Er besass trotz seiner grossen, die ganze Menschheit umfassenden Ideale nicht Fähigkeit und Geschick, auch nur die kleinste Dorfschule zu regieren."


Beispiel der Auseinandersetzungen: Niederer verfälscht Pestalozzis Lenzburger Rede von 1809

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Johannes-Niederer (1779-1843)
Johannes Niederer (1779-1843)

    
1809 wird die "Gesellschaft der Schweizerischen Erziehungs- freunde" gegründet und Pestalozzi zu deren ersten Präsidenten gewählt. Anlässlich der Eröffnungsveranstaltung am 30. Aug. 1809 hält Pestalozzi eine grosse Rede, die sog. Lenzburger Rede "Über die Idee der Elementarbildung" (Kritische Gesamtausgabe PSW 22, S. 1-324). Pestalozzis Mitarbeiter Johannes Niederer ergänzt die Rede durch viele eigene Gedankengänge und gibt sie so in Druck. Dabei wird Pestalozzis bildhafte und leidenschaftliche Diktion immer wieder durch eine recht überheblich wirkende Philosophensprache unterbrochen, die Niederers Bemühen verrät, Pestalozzis erfahrungsmässige Gedankengänge in das Gedankensystem von Schelling hineinzupressen.



Der Streit um die Nachfolge von Pestalozzi 1810: Die Lehrer Schmid und Niederer - Reformen von Schmid bewirken Feindschaft der Lehrer - Abgang von 16 Lehrern, Abgang von Niederer - Kampf Niederers gegen Schmid - Schmid geht nach Paris

Die Lehrer streiten u.a. um die Nachfolge nach Pestalozzis Abgang, vor allem Joseph Schmid (1785-1851) und Johannes Niederer (1779-1843):

-- Joseph Schmid, Bauernsohn aus Vorarlberg, Pestalozzi-Schüler, dann hervorragender Mathematiklehrer am Institut, Einzelgänger, zur Herrschsucht neigend, rücksichtslos, bei anderen Lehrern unbeliebt, aber mit Sinn für Gerechtigkeit und mit klarem Blick für die Realität, mit der Forderung der Gewissenhaftigkeit.

-- Johannes Niederer, herrschsüchtig, mit Hochschulausbildung als Theologe und dann bei Pestalozzi beschäftigt, in der zeitgenössischen Philosophiediskussion tätig, mit dem Ehrgeiz, die Pestalozzi-Erziehung mit der idealistischen Philosophie in Einklang zu bringen; in Yverdon wird er Sprecher, Instituts-Philosoph und Leiter der Angelegenheiten gegen aussen; er eröffnet eine institutseigene Druckerei, führt mit Pestalozzi-Gegnern einen literarischen Kampf, und hat kaum noch Zeit für den Unterricht selbst; er gestaltet z.T. Pestalozzi-Bücher entscheidend mit und fühlt sich deswegen anderen Lehrern überlegen.


1810 nach einer grossen Auseinandersetzung in der Lehrerversammlung verlässt Schmid mit vier anderen Lehrern das Pestalozzi-Institut, um in österreichischen Gebieten das Schulwesen zu reorganisieren. Der Ideologe Niederer aber ist zur Führung des Pestalozzi-Institus unfähig und lässt Schmid 1814 anlässlich der Hochzeit zwischen Niederer und der Leiterin des Töchterinstituts zurückkehren. Pestalozzi schenkt Niederer zur Hochzeit das Töchterinstitut, scheinbar in der Annahme, dass Niederer sich dann auch selber sein Gehalt erarbeiten müsse. Ab 1815 ist Schmid wieder fest in Yverdon und fängt gleich an zu reformieren: Stop des literarischen Kriegs, Schliessung der Hausdruckerei, strenge Buchhaltung, Entlassung fast der Hälfte der Lehrer, grösseres Arbeitspensum für die verbleibenden Lehrer. Diese Reformen sind ein bisschen zu viel aufs mal und bewirken wiederum eine Feindschaft fast aller Lehrpersonen.

Nach dem Tod von Pestalozzis Frau Anna bricht der Streit zwischen den Lehrern offen aus, und Pestalozzi bleibt nur die Verzweiflung. Beschwörungen, der guten Sache zu dienen, nützen nichts. 1816 verlassen 16 Lehrer das Institut. Niederer gestaltet seinen Abgang 1817 als Pfarrer von der Kanzel der Schlosskirche aus, unterbricht die Predigt, lässt seine Vorwürfe los und sagt sich so öffentlich von ihm los. Niederers Abgang zieht sich aber noch lange hin mit einem Kampf gegen Pestalozzi um finanzielle Ansprüche wegen dem "geschenkten" Töchterinstitut, im Hintergedanken aber gegen den Reformer Schmid. Niederer zieht trotz Friedensappellen Pestalozzis gegen Pestalozzi vor Gericht, und als das Gericht Pestalozzi weitgehend recht gibt, hört Niederer nicht auf, bis Schmid unter fadenscheinigen Vorwürfen aus dem Kanton Waadt und später auch aus dem Neuhof behördlich ausgewiesen wird. Schmid versucht darauf [nach dem Tod Pestalozzis], in Paris ein Pestalozzi-Institut zu verwirklichen.


Verlagsvertrag mit Cotta 1817 - Projekt der Wiedereröffnung des Neuhofs 1818

Im gleichen Jahr 1817 kann Pestalozzi mit dem Cotta-Verlag einen Vertrag über die Herausgabe seiner sämtlichen Schriften abschliessen. Endlich sollten Pestalozzi für pädagogische Projekte grössere, selbst erarbeitete Geldsummen zur Verfügung stehen. In der Rede zu seinem 72. Geburtstag am 12. Januar 1818 kündet er die Wiedereröffnung der Armenanstalt auf dem Neuhof in Birr an und verspricht, die zu erwartenden 50'000 Franken für die Förderung seiner Unterrichts- und Erziehungsmethode, für die Lehrerbildung, für die Errichtung von Musterschulen und für die permanente Weiterbearbeitung des "Mutter-
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Yverdon-Clendy: Armenzentrum
                            Pestalozzi heute

Yverdon-Clendy: Armenzentrum
Pestalozzi heute




     
oder Wohnstubenbuchs" zu verwenden. Pestalozzi erweist sich dabei weiter als schlechter Rechner: Er verteilt das zu erwartende Geld bereits im Voraus.

Mitarbeiter Joseph Schmid wendet sich gegen den Neuhof. Stattdessen wird in Clendy bei Yverdon [heute Ortsteil von Yverdon] eine Armenanstalt eröffnet, in Verbindung mit einer Industrieschule und einem Lehrerseminar.

Nach bereits einem Jahr erfolgt [im Jahr 1819?] die Vereinigung mit dem Institut in Yverdon. Das bereits verteilte Geld kommt nicht in der erhofften Höhe herein. Erst 1821 erhält Pestalozzi die ersten 10'000 Franken. 1824 muss Pestalozzi seine Stiftung öffentlich als gescheitert erklären und widerrufen (Kritische Gesamtausgabe, PSW 27, S.111), und 1825 wird das Pestalozzi-Institut samt der Armenanstalt in Clendy aufgelöst.


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Hauptsächliche Pestalozzi-Werke der Zeit von Yverdon 1804-1825

Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Yverdon 1804-1825; http://www.heinrich-pestalozzi.info

Der literarische Ertrag der Yverdoner Zeit ist trotz der fast ununterbrochenen Auseinandersetzungen ausserordentlich umfangreich, zum Beispiel "Ansichten und Erfahrungen" und "An die Unschuld". Von den weiteren Schriften dieser Jahre sind vor allem die 3. Fassung von "Lienhard und Gertrud" zu nennen, die Schriften "Geist und Herz in der Methode" (1805) und "Über die Idee der Elementarbildung" (Lenzburger Rede). Aus den zahlreichen in Yverdon gehaltenen Reden und Ansprachen ragt vor allem Pestalozzis Geburtstagsrede von 1818 heraus.


Pestalozzi: "Geist und Herz in der Methode" 1805

In "Geist und Herz in der Methode" (Kritische Gesamtausgabe, PSW 18, S. 1-52) wendet sich Pestalozzi zuerst dagegen, sein Institut nur aufgrund seiner Unterrichtserfolge zu beurteilen. Wichtiger sei das nicht direkt Messbare: Frohsinn, kindliche Anhänglichkeit und Vertrauen in die Lehrer, Bildung zum Gehorsam und zur Selbstüberwindung. Er betont, dass Bildung kein von aussen bewirktes Einpflanzen von Kenntnissen sei, sondern auf innerer Erregung von Anlagen und Kräften beruhe.

Allerdings hält er die Kräfte von Kopf und Herz für das Menschsein nicht von gleichem Wert, denn intellektuelle Bildung an sich sei nicht geeignet, jene inneren Kräfte zu wecken, die den Menschen zum Gefühl seiner inneren Würde und zum Erkennen des in seiner inneren Natur liegenden göttlichen Wesens führt. Nach Pestalozzi entfalten sich diese nicht durch die Kraft des Intellekts im Denken, sondern durch die Kraft des Herzens im Lieben. Pestalozzi sieht den Vorzug seiner Erziehungsweise, die er anfänglich schlicht als "Methode", später als "Idee der Elementarbildung" bezeichnet, gerade darin, dass Denken und Lieben miteinander verbunden werden:

"Sie [die Methode] lehrt das Kind in allem Denken lieben und in aller Liebe denken." (Kritische Gesamtausgabe, PSW 18, S. 37).

[Die Vorbilder für die Kinder, die zerstrittenen Lehrer, liefern aber genau das Gegenteil...]


Pestalozzi: "Ansichten und Erfahrungen" 1806

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Pestalozzi-Maske aus Terrakotta 1809


Pestalozzi-Maske aus Terrakotta 1809;  Lebend- maske von 1809 von J. M. Christen im Auftrag des Kronprinzen Ludwig von Bayern, gemäss Skelettfunden von 1984 authentisch.
    
Pestalozzi arbeitete in Yverdon gleichzeitig an mehreren Schriften. Vieles wurde überarbeitet, von den Mitarbeitern abgeschrieben und überarbeitet, mit anderen Schriften vereinigt, für Teildrucke oder Gesamtdrucke vorbereitet und dann doch nicht oder nur zum Teil gedruckt. Dieses Schicksal erfuhr in ganz besonderer Weise die Schrift "Ansichten, Erfahrungen und Mittel zur Beförderung einer der Menschennatur angemessenen Erziehungsweise" (kurz: "Ansichten und Erfahrungen") von 1806. Zu Pestalozzis Lebzeiten gelangten nur Auszüge daraus zum Druck. Der verfügbare Text des Werks stützt sich auf 20 Handschriften und ist in seiner veröffentlichten Fassung auch ein Werk Emanuel Dejungs, des langjährigen Herausgebers der Kritischen Gesamtausgabe.

Das Werk beginnt - wie meistens - mit einem Lebensrückblick, mit der Beschreibung Pestalozzis pädagogischer Laufbahn, mit der Darstellung der Entstehung und der Grundgedanken seiner Methode einer naturgemässen Erziehung, mit der häuslichen Erziehung als sittlich-religiöse Grundlage. Entsprechend formuliert er die Ansprüche, die an einen Erziehungsversuch gestellt werden müssen und nennt Kriterien zur Beurteilung. Wesentlich ist dabei die Modifizierung der Methode je nach den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Etablierung der neuen Erziehung soll mit der Erneuerung des Erziehungswesens und mit Versuchsschulen vollzogen werden. Der Einfluss einzelner Personen wie Schulmeistern und einflussreichen Politikern muss dabei erkannt werden. 


Pestalozzi: Rede zum 72. Geburtstag 1818 mit Erziehungsleitlinien

Pestalozzis Rede aus Anlass seines 72. Geburtstages am 12. Januar 1818 (Kritische Gesamtausgabe PSW 25, S. 261-364) ist eines seiner aussagekräftigsten Werke, im Erstdruck 173 Seiten. Sie ist darum besonders interessant, weil sie ohne Niederers Mitwirkung zustande gekommen ist. Pestalozzi erscheint in diesem Werk in seiner alten Leidenschaftlichkeit, Originalität und philosophischen Ungebundenheit. Zur Verdeutlichung sozialer, geistiger und pädagogischer Gesetzmässigkeiten und Zusammenhänge wählt er oft Bilder aus dem organischen Lebensbereich.

Am eindrücklichsten ist der Vergleich vom Heranreifen des Menschen mit dem Wachstum eines Baumes am Anfang der Rede:

"Das Bild der Erziehung, das innere, heilige Wesen einer besseren Erziehung steht im Bild eines Baums, der an den Wasserbächen gepflanzt ist, vor meinen Augen. Siehe, was ist er? Woraus entspringt er? Woher kommt er mit seinen Wurzeln, mit seinem Stamm, mit seinen Ästen, mit seinen Zweigen, mit seinen Früchten? Siehe, du legst einen kleinen Kern in die Erde. In ihm ist des Baumes Geist. In ihm ist des Baumes Wesen. Er ist des Baumes Samen." (Kritische Gesamtausgabe, PSW 25, S. 265).

Pestalozzi vergleicht den konzentrierten Samen und seine Verwandlung in einen Baum mit dem Geist des Menschen im Baby, der sich bis zum Geist in der vollmenschlichen Existenz entwickelt, d.h. zu einem von Glauben und Liebe getragenen Leben. Die Umgebung ist für die Entwicklung des Baumes wie auch für die Entwicklung des Menschen verantwortlich. Dabei ist der menschliche Organismus zwar tierisch, aber doch kein Tier, "er ist der Organismus einer sinnlichen Hülle, in der ein göttliches Wesen ruht und lebt." (Kritische Gesamtausgabe, PSW 25, S. 268)

Dabei können die Menschen entscheiden, welchen Einflüssen, welchem "Boden" sie sich aussetzen. Zum Thema Baum und Wachstum existiert eines der wenigen Gedichte Pestalozzis:

Faksimile: Pestalozzi-Gedicht: Der
                        Baum (PSW 23, S. 327-329)
Jung geschützt,
jung gestützt,
wachst er grad
vom Boden auf
dem Himel an.
Jung gedrückt,
jung gebükt,
wachst er krum
vom Himel ab
zum Boden hin.
Jung gezogen,
alt verbogen,
ist so wahr
als jung gebogen,
wohl gezogen.
Jung verzogen,
alt verkrüppelt,
ist mehr wahr
als jung gebogen,
wohl gezogen.
Jung geschützt,
jung gestützt,
wachst er grad
vom Boden auf
zum Himel an.
Jung gedrükt,
jung gebükt,
wachst er krum
vom Himel ab
zum Boden hin.




Faksimile des Pestalozzi-Gedichts
"Der Baum": PSW 23, S. 327-329

Im weiteren Verlauf seiner Rede berührt Pestalozzi die Verbesserung der Erziehung in den einzelnen Familien mit Hilfe eines Erziehungsbuchs als Volksbuch. Die elementaren Lebenselemente sollen von den Eltern beigebracht werden.

Pestalozzi hält ein solches Volksbuch für derart wichtig, dass er sogar einen Teil seiner Stiftung für die immerwährende Bearbeitung dieses Projekts aussetzt. Als Vorarbeit für ein solches Werk können die 1818/19 geschriebenen 34 "Briefe an Greaves über die Entwicklung des kindlichen Geisteslebens" angesehen werden, die nicht im Original, sondern nur in einer englischen Übersetzung erhalten geblieben sind.

Emanuel Dejungs wird später der langjährige Herausgebers der Kritischen Gesamtausgabe.
  
Pestalozzi 1818: Lithographie nach G.A.
                          Hippius
Pestalozzi 1818: Lithographie
nach G.A. Hippius





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Letzte Lebensjahre auf dem Neuhof: 1825-1827: Autobiographie, Erziehungslehre - verleumderisches Buch von Niederer

Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Letzte Lebensjahre auf dem Neuhof 1825-1827; http://www.heinrich-pestalozzi.info

Nach der Ausweisung von Schmid aus dem Kanton Waadt verlässt Pestalozzi mit ihm und den letzten vier Zöglingen im März 1825 das Institut und zieht sich endgültig auf den Neuhof zurück. Den Traum, seine ehemalige Armenanstalt wieder zu beleben, hatte er immer noch nicht begraben. Gemeinsam mit seinem Enkel Gottlieb baut Pestalozzi einen deutlich herrschaftlicheren "neuen" Neuhof.

Mit fast 80 Jahren legt Pestalozzi noch einmal selber Hand an.
(aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Neuhofjahre: 1769-1798; http://www.heinrich-pestalozzi.info)


Pestalozzi: "Schwanengesang" 1826: Autobiographie und Erziehungslehre

Auf dem Neuhof schrieb Pestalozzi sein letztes grosses Werk, den "Schwanengesang". Das Buch besteht im wesentlichen aus zwei Teilen: einer Autobiographie und einer umfassenden Darstellung seiner Erziehungslehre. Der Cotta-Verlag will die Schilderung der Auseinandersetzungen in Yverdon aber nicht veröffentlichen, so dass die Auseinandersetzungen in Yverdon 1826 bei Fleischer in Leipzig unter dem Titel "Meine Lebensschicksale als Vorsteher meiner Erziehungsinstitute in Burgdorf und Iferten" (Kritische Gesamtausgabe, PSW 27, S. 215-344) herausgegeben werden.

Darin vergleicht er die Realität in Yverdon mit seinen Ideen, und er kommt zum Schluss, dass Yverdon nicht das war, was er wollte. Zwar richtet er die Kritik zuerst einmal gegen sich selber, aber dabei entgeht ihm offensichtlich, dass er damit nicht nur sich selbst und sein eigenes Werk beurteilt und verurteilt, sondern gleichzeitig auch die Leistungen seiner zahlreichen Mitarbeiter. Die Arbeit Schmids wird günstiger beurteilt als diejenige Niederers. Zum Beweis für seinen ungebrochenen Willen zur Versöhnung druckt Pestalozzi am Schluss seiner Lebensschicksale jenen Brief ab, den er am 1. Februar 1823 Niederer persönlich überbracht hatte, und schliesst das Werk mit dem Satz:

"Ich bin und bleibe heute noch in der nämlichen Gesinnung, in der ich war, als ich diesen Brief schrieb." (Kritische Gesamtausgabe, PSW 27, S. 344).


Die Fertigstellung des neuen Gebäudes auf dem Neuhof erlebt Pestalozzi nicht mehr.

Pestalozzi stirbt inmitten armer Kinder in seiner Sehnsucht, ein guter Vater zu sein.
(aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Neuhofjahre: 1769-1798; http://www.heinrich-pestalozzi.info)


Niederer selbst bleibt unversöhnlich und gibt bei seinem 25 Jahre alten Mitarbeiter Eduard Biber (1801-1874) eine verleumderische Schrift in Druckauftrag: "Beiträge zur Biographie Heinrich Pestalozzi's und zur Betrachtung seiner neuesten Schrift: 'Meine Lebensschicksale u.s.f.' nach dessen eigenen Briefen und Schriften betrachtet, und mit anderen Urkunden belegt" (St. Gallen, Januar 1827). Pestalozzi ist nicht mehr imstande, darauf öffentlich zu antworten und merkt am Ende in seinen Fieberzuständen nicht einmal mehr, dass seine Feder keine Tinte mehr hat. Drei Wochen nach der Lektüre der verleumderischen Schrift stirbt Pestalozzi am 17. Februar 1827 in Brugg und wird am 19. Februar in Birr an der Seitenmauer des alten Schulhauses begraben.


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Die Geschehnisse um Pestalozzis Grab

Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Letzte Lebensjahre auf dem Neuhof 1825-1827; http://www.heinrich-pestalozzi.info


Ein Grabdenkmal 1846

1846 errichtet der Kanton Aargau das noch heute bestehende Grabdenkmal mit der Grabinschrift von Augustin Keller:

Retter der Armen im Neuhof,
Prediger des Volkes in Lienhard und Gertrud,
Zu Stans Vater der Waisen,
Zu Burgdorf und Münchenbuchsee
Gründer der neuen Volksschule,
Zu Iferten Erzieher der Menschheit,
Mensch, Christ, Bürger,
Alles für Andere, für sich Nichts.
Segen seinem Namen!

Fund der Gebeine 1984 und medizinische Untersuchungen: Pestalozzis Krankheiten

1984 wird bei Bauarbeiten an Pestalozzis Grabdenkmal zufällig die Gruft gefunden, in die Pestalozzis sterbliche Überreste 1846 umgebettet worden waren, und man findet darin vollständig und gut erhalten seine Gebeine. Die anthropologische und pathologische Untersuchung ergeben einige wichtige Aufschlüsse:

-- Pestalozzi war in seinen jungen Mannesjahren wohl knapp 170 cm gross, bei seinem Tod noch ca. 165 cm

-- die bekannte Lebendmaske Pestalozzis von 1809 muss als echt betrachtet werden, die zahlreichen Pestalozziportraits dagegen als recht freie künstlerische Gestaltungen. Am ehesten entspricht in den Gesichtsproportionen die Zeichnung von Hippius dem Original

-- in seinen letzten Lebensjahren war Pestalozzi zahnlos und hatte arthrotische Veränderungen vor allem an den Endgelenken der rechten Hand aber auch im Halswirbelbereich, nicht ungewöhnlich für einen Mann seines Alters, der zeitlebens viel geschrieben hatte

-- eine unbehandelte Fraktur des linken Handgelenks konnte festgestellt werden, und der überlieferte Eingriff einer Aufbohrung der Knochenwand hinter dem rechten Ohr (Trepanation) zum Abfluss des Eiters einer Mittelohrentzündung hat tatsächlich stattgefunden

-- die deutlichen Veränderungen im Schriftbild des greisen Pestalozzi werden als Folge der arthrotischen Veränderungen seiner rechten Hand aber auch seines im Alter deutlich nachlassenden Sehvermögens beschrieben. Ein sicherer und ausdauernder Läufer muss Pestalozzi allerdings bis zu seinem Tod gewesen sein.


Ausführliche Dokumentation der Untersuchungen in: Etter, Hansueli F.: Johann Heinrich Pestalozzi. Befunde und Folgerungen auf Grund einer Untersuchung an seinen Gebeinen. Zürich 1984. Über seine Gebrechen berichtet Pestalozzi in seinen Werken und Briefen aber kaum etwas.


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Bildernachweis

- Pestalozzi, Portrait: http://www.riley-smith.com/hamish/rarebooks/b39.htm

Zürich
- Grossmünster: aus: http://www.bueda-zh.ch/index30.htm
- Titelblatt "Agis", 1765: aus: http://www.heinrich-pestalozzi.info

Kirchberg, Birr und landwirtschaftliche Experimente
- Karte mit Position von Kirchberg: Verlag Kümmerly und Frey 2001
- Anna Pestalozzi-Schulthess; Ölgemälde von F.G.A. Schöner, 1804: aus: http://www.heinrich-pestalozzi.info
- Karte von Birr bei Schinznach-Bad: aus: http://www.koi-breeder.ch/media/files/Plan.jpg
- Saat-Esparsette: aus: http://www.schlipphak.de/start.htm
- Krapp-Pflanze: aus: http://www.langusch.de/weitere%20Kr%E4uter/Thumbs.html
- Franziska Romana von Hallwil, Portrait: aus: http://www.ag.ch/hallwyl/de/pub/geschichte/familiengeschichte.htm
- Isaak Iselin: aus: http://www.ahneninfo.com/de/genealogien/iselinisaak.htm
- Johann Kaspar Lavater, Pfarrer am Fraumünster: aus: Universität Neuenburg; http://bpun.unine.ch/IconoNeuch/Portraits/A-Z/L.htm

Die Zeit in Stans
- Napoleon lässt rauben und vetrgewaltigen...: aus: http://www.nga.gov/kids/napoleon/nap1.htm
- Philipp Albrecht Stapfer (1766 -1840): aus: http://www.heinrich-pestalozzi.info
- Pestalozzi in Stans mit Kindern. Ölgemälde von K. Grob, 1879 (Kunstmuseum Basel): aus: http://www.heinrich-pestalozzi.info
- Pestalozzi in Stans mit Kindern im Sonnenlicht. Ölgemälde von A. Anker, 1870 (Kunstmuseum Zürich): aus: http://www.heinrich-pestalozzi.info
- Karte: Die Lage von Stans und die Bezirke des Kantons Niedwalden: aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Stans
- Wasserschloss Hallwil: aus: http://www.raonline.ch/pages/agc/agcschhallwil01.html
- Heinrich Zschokke: Der ursprüngliche Brandenburger betreibt den Misserfolg von Pestalozzi: aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Heinrich_Daniel_Zschokke

Die Zeit in Burgdorf und Münchenbuchsee
- Karte: Position des Gurnigelbad zwischen Bern und Thun: Kümmerly und Frey 2001
- Karte: Die Positionen von Burgdorf und Münchenbuchsee: Kümmerly und Frey 2001
- Das Schloss Burgdorf um 1760: aus: http://www.heinrich-pestalozzi.info
- Karte der Schweiz 1789, Karte der Schweiz 1806: aus: Putzger: Historischer Atlas 1975, S.82, 93

Die Zeit in Yverdon
- Karte des Kanton Waadt mit Yverdon: aus: http://www.resto.ch/shared/cadre-fr.php?ct=vd
- Schloss Yverdon (Iferten): aus: http://yverdon.nordvaudois.ch/presentation.html
- Johannes Niederer (1779-1843): aus: http://www.heinrich-pestalozzi.info
- Yverdon-Clendy: Armenzentrum Pestalozzi heute: aus: http://www.centrepestalozzi.ch/clendy.htm
- Pestalozzi-Maske aus Terrakotta 1809: Lebendmaske von 1809 von J. M. Christen: http://www.heinrich-pestalozzi.info
- Faksimile: Pestalozzi-Gedicht: Der Baum (PSW 23, S. 327-329): http://www.heinrich-pestalozzi.info
- Pestalozzi 1818: Lithographie nach G.A. Hippius: aus: http://www.heinrich-pestalozzi.info

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