Pestalozzi: "Schwanengesang"
1826: Autobiographie und Erziehungslehre
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Anna
Pestalozzi-Schulthess; Ölgemälde von F.G.A.
Schöner, 1804
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Eine weitere Motivation, in die Landwirtschaft zu gehen, ist
Pestalozzis Liebesverhältnis zu
Anna Schulthess, 8 Jahre älter als er. Nach
dem Tod des gemeinsamen "Patrioten"-Freundes und
Vorkämpfers für die Gleichberechtigung aller Schichten
Johann Kaspar Bluntschli
(Spitzname
Menalk)
kommt es zum innigen Liebesverhältnis mit der moralischen
Verpflichtung, die Ideale von Bluntschli weiterzuentwickeln.
Nach dem Hausverbot der standestreuen Familie Schulthess
wird das Verhältnis mit heimlichen Treffs und Briefen
aufrechterhalten. So sind aus der Zeit zwischen Frühjahr
1767 und ihrer Heirat im September 1769 noch 468
Briefe erhalten, die über 650 Buchseiten füllen. Darin
ausgedrückt sind die leidenschaftliche Liebe Pestalozzis zu
Anna, ihr anfängliches Widerstreben und ihr allmähliches,
eher kühles Entgegenkommen, dann der Durchbruch ihrer
Liebesleidenschaft, das Aufblühen einer beiderseitigen
Zuneigung voller Poesie, Humor und Zärtlichkeit, dann ihr
gemeinsames Ringen um Wahrheit und Tugend und ihr Kampf für
ihre Liebe gegen die reichen Eltern Schulthess mit allen
Demütigungen und Verletzungen.
Pestalozzi fühlt sich zu Höherem berufen, kommt zu
schonungslosen Selbstreflexionen und rechnet gleichzeitig
mit der Hilfe der Schulthess-Verwandtschaft. Er will
Rousseaus Erziehungsvorstellungen umsetzen und seine Söhne
nicht zu unnatürlichen Stadtmenschen werden lassen.
Gleichzeitig sind auch depressive und schwermütige Töne
erwähnt, mit Visionen von Krankheit oder Tod. Aber auf alle
Fälle will er mit Anna aufs Land und gibt sich der Illusion
der idyllischen Bilder des Landlebens hin, mit dem Ziel, das
Leben der Menschen zu revolutionieren.
Anna zaudert gegenüber Heinrich Pestalozzis Visionen Wochen
und Monate lang, bis sie sich ihrer Liebe sicher ist,
bezeugt im Brief vom 19. August 1767. Kurz darauf tritt
Pestalozzi im September 1767 seine landwirtschaftliche Lehre
an. Durch Freunde und Brüder wird der briefliche geheime
Kontakt mit Anna aufrecht erhalten. Dabei behält Pestalozzi
aber auch seinerseits einen gewissen Hochmut: Er bricht die
Lehre bei Tschiffeli nach nur neun Monaten ab, kehrt nach
Zürich zurück und meint, nun sei er bereits ein
landwirtschaftlicher Unternehmer...
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Karte von Birr bei Schinznach-Bad
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Die Zeit auf dem "Neuhof" bei Birr 1769-1798
Zusammenfassung aus:
Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann: Neuhofjahre:
1769-1798; http://www.heinrich-pestalozzi.info
Der Erwerb des Landgutes Neuhof bei Birr
Pestalozzi erwirbt in der Nähe des Dorfes Birr (bei
Schinznach-Bad, heute Kanton Aargau) ein Bauerngut und
lässt ein ziemlich herrschaftliches Haus bauen, den
"Neuhof". Pestalozzi verwirklicht in dieser fast 30 Jahre
langen Zeit mehrere Projekte, wobei es in manchen Fällen
auch nur bei Versuchen bleibt.
Birr gehört zu jener Zeit
zu Bern.
(aus: Brühlmeier / Kuhlemann: Pestalozzi
als Armenerzieher;
http://www.heinrich-pestalozzi.info)
Das Ideal des Bauern und der Bauer Pestalozzi: Die
Nachbarn zerstören mit Gewohnheitsrecht die Ernte -
Rückzug von Krediten - Missernten führen zum ersten
Bankrott
Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier,
Gerhard Kuhlemann: Das Ideal des Bauern und der Bauer
Pestalozzi; http://www.heinrich-pestalozzi.info
Bei
Johann Rudolf
Tschiffeli hatte Pestalozzi in der Lehre Obstbau,
Feldbau, die Pflanzung und Pflege neuer Gewächse, die
Konservierung der Feldfrüchte und des Obstes, die
Verbesserung des Bodens durch neue Düngemethoden, all die
nötigen ökonomischen Berechnungen und den Umgang mit
Käufern und Verkäufern erlernt. Dies sollte reichen für
einen Familienunterhalt. Ausserdem stehen Pestalozzi
verschiedene Finanzquellen zur Verfügung: ein reiches Erbe
seines früh verstorbenen Vaters, ein Darlehen seines
Onkels mütterlicherseits, und ein Vorschuss eines Zürcher
Bankhauses, das entfernt zur Verwandtschaft seiner Frau
Anna gehört.
In verschiedenen Briefen an seinen Schwarm
Anna Schulthess
äussert er immer wieder, dass seine Tätigkeit als eine
Aktivität zum Wohle des Volkes verstanden werden müsse.
Pestalozzi erlebt dadurch aber weniger Freuden sondern
eher Schmerz, Verzicht und Enttäuschung. Pestalozzi kauft
sich im kleinen Dorf
Birr
von über 50 Bauern gegen 20 Hektar als wenig ertragreich
geltendes Wies- und Ackerland und lässt darauf neue
Gebäude errichten, den "
Neuhof",
wo er bis 1798 zu wirtschaften versucht und 1825 wieder
zurückkehrt.
1798 bis 1801 wird der "Neuhof" vom einzigen
Pestalozzi-Sohn geleitet, nach dessen Tod vom zweiten
Ehemann der überlebenden Witwe, schliesslich von
Pestalozzis einzigem Enkel
Gottlieb. Heute ist der Neuhof eine
Erziehungs- und Berufsbildungsanstalt für gefährdete
Jugendliche.
Pestalozzi will nun neue Bauernmethoden anwenden: neue
Düngemethoden, den Anbau der
Esparsette (Onobrychis viciaefolia) als neue
Futterpflanze, und die
Krapp-Pflanze
/ Färberröte (rubia tinctorum) mit einem roten
Farbstoff für die Textilindustrie.
Saat-Esparsette
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Krapp-Pflanze
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Aber die Schwierigkeiten häufen sich schon von Anfang an.
Der Güterspekulant und Wirt und Metzger in Birr,
Heinrich Märki,
spielte Pestalozzi übel mit. Die Familie Schulthess lässt
ihn mit Ratschlägen in geschäftlichen Dingen auch im
Stich. Gleichzeitig hat Pestalozzi aber auch seine
Eigenartigkeit, sich nicht gerne beraten zu lassen. Auch
seine Frau Anna ist keine sparsame Person, und das
Verhältnis zu Nachbarn kann sich auf dieser Basis kaum gut
entwickeln.
Argwohn und Misstrauen wachsen, die Nachbarn zerstören ihm
seine empfindlichen Pflanzungen, wie wenn es Weideland
wäre und sie lassen das Kleinvieh im Brachjahr auf
Pestalozzis Äckern weiden wie bei der alten
Dreifelderwirtschaft als vormals ungeschriebenes Recht.
Pestalozzi versucht es zuerst mit guten Worten, dann mit
Zäunen, und schliesslich mit Gerichtsverfahren, wo er
Recht bekommt, aber die Nachbarschaft endgültig verliert.
Andere Bauern bringen Pestalozzi bei seinen Geldgebern in
Verruf, ja sogar sein eigener Knecht gibt dem Zürcher
Bankier an, die Erfolgsaussichten der Pestalozzi-Projekte
seien nicht sehr gross.
Am 12. August 1770 erklärt der Bankier das
Pestalozzi-Unternehmen für gescheitert und zieht sein
Kapital zurück. Es ist noch keine Ernte eingefahren, und
der Dachstuhl über dem neuen Haus ist noch nicht einmal
errichtet... Da erweist sich der Boden für Krapp-Anbau
tatsächlich als ungeeignet. Die europaweiten Missernten
1771 und 1772 verschlimmern die Lage noch, und Pestalozzi
versucht es dann Viehwirtschaft, aber ohne jede
Kenntnisse. So steigt sein Schuldenberg, und 1774 geht er
bankrott, verkauft sein Vieh, verpachtet einen Grossteil
des Landes und bleibt trotzdem in den Schulden. Annas
Familie begleicht ihm zwar die Schulden, aber nun hat
Pestalozzi auch bei den Schwiegereltern seinen Ruf
verspielt.
Der Sohn Jean Jacques / Hansjakob: Erziehungsexperimente
an einem epileptischen Kind - Infragestellung der Ideale
von Rousseau - Schlussfolgerungen zum Mittelweg
Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier,
Gerhard Kuhlemann: Der Sohn Hansjakob;
http://www.heinrich-pestalozzi.info
Hansjakob Pestalozzi
wird am 13. August 1770 geboren und zu Ehren von Rousseau
auf den Namen
Jean
Jacques getauft. Ein Tagebuchfragment über die
Versuche, die Erziehung nach den Idealen von Rousseau zu
gestalten, bezieht sich auf die Zeit vom 27. Januar bis
zum 19. Februar 1774. Pestalozzi zeichnet darin die
praktische Umsetzung der Ideale in die Praxis auf, mit der
kritischen Begutachtung, was davon funktioniert und was
nicht. Bei der Auseinandersetzung zwischen Freiheit und
Gehorsam findet die erste Distanzierung zu Rousseau statt.
Als wichtige Erkenntnis kommt Pestalozzi zum Schluss:
"Die Wahrheit ist nicht
einseitig." Und er fährt fort: "Freiheit ist ein Gut,
und Gehorsam ist es ebenfalls. Wir müssen verbinden, was
Rousseau getrennt (hat). Überzeugt von dem Elend einer
unweisen Hemmung, die die Geschlechter der Menschen
erniederte, fand er keine Grenze der Freiheit."
(Kritische Gesamtausgabe, PSW 1, S. 127).
Der Sohn Jean Jacques ("
Jacqueli")
ist
gleichzeitig behindert, mit wenig "Begabung" und hat
wiederholt auftretende epileptische Anfälle, die seine
Gesundheit schwächen. Gleichzeitig ist der Sohn mit vielen
verwahrlosten Kindern der väterlichen Armenanstalt
konfrontiert, die ihn noch zusätzlich verderben. Schon mit
3 1/2 Jahren will Pestalozzi dem kleinen Bub das Lesen
beibringen, muss 8 Jahre später in einem Brief an
Peter Petersen aber
zugeben, dass es ein völlig erfolgloses Unternehmen war:
"Er kann keine zwei Linien
Gebete auswendig, er kann weder schreiben noch lesen.
Ich hoffe zu Gott, diese Unwissenheit, in welcher die
Vorsehung mir erlaubt, ihn lassen zu können, werde das
Fundament seiner vorzüglichen Ausbildung und seiner
besten Lebensgeniessungen sein." (Kritische
Gesamtausgabe, PSB 3, S. 132)
Erst als der Sohn 13 Jahre alt ist, können sich die
Pestalozzis dazu entschliessen, die Isolation ihres Sohnes
auf dem Neuhof zu beenden und ihn auswärts erziehen und
schulen zu lassen. Sie überlassen ihn dem Basler Kaufmann
Felix Battier mit
Peter Petersen als
Hauslehrer. Der Briefwechsel ist in den so genannten "
Petersenbriefen"
zusammengefasst. Sohn "Jacqueli" kommt auf eine Ausbildung
nach
Mulhouse,
macht ab 1785 eine kaufmännische Lehre bei der Familie
Battier in Basel und kehrt dann auf den Neuhof nach Birr
zurück. 1791 heiratet er
Anna
Magdalena Frölich und hat mit ihr einen Sohn
Gottlieb. "Jacqueli"
stirbt früh 1801.Gottliebs Sohn
Karl, Pestalozzis Urenkel, bleibt
unverheiratet und kinderlos, womit Pestalozzis Linie
schliesslich ausstirbt.
Pestalozzi als Armenerzieher: Missernten und
mangelnder Kapitalismus führen zum weiteren Bankrott -
Isolation
Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier,
Gerhard Kuhlemann: Pestalozzi als Armenerzieher;
http://www.heinrich-pestalozzi.info
Nach dem Scheitern der Landwirtschaft stellt Pestalozzi
auf den Handel mit Baumwolle um: Er bezieht von
Schulthess-Verwandten die rohen Baumwollballen und lässt
sie in der näheren Umgebung von Birr in Spinnstuben und
Webkellern verarbeiten. Für den kapitalistischen Profit
ist Pestalozzi aber zu unbegabt. Auch hier müssen seine
Geldgeber erneut finanzielle Verluste in Kauf nehmen.
Gleichzeitig ist Pestalozzi aber überzeugt, dass die
verelendeten Kinder nur durch Arbeit und Bildung eine
Hilfe bekommen können, um ihr Leben später ordentlich zu
bestreiten. Er entwickelt den Gedanken einer
Armenschule mit
Spinnen, Weben und Feldbau, mit geschäftlicher Verankerung
in der aufkommenden Textilindustrie. Ab 1773 nimmt er auf
dem "
Neuhof" arme
Kinder in sein Haus auf, bei Kost, Kleidung und Logis, mit
Anleitung zur Arbeit und Erziehung. So wird sein Bauernhof
1774 zu einer
Armenanstalt,
ein neuer Lebensraum für Mittellose zur Bewältigung von
Armut, 1776 bereits mit 22 Kindern, 1778 mit 37 Kindern.
Weiter lässt er eine Fabrikstube und ein Kinderhaus bauen
und stellt Webermeister, Spinnerinnen und Mägde für den
Feldbau zur Instruktion der Kinder an. Er selbst erteilt
den Kindern Lesen und Rechnen. Ziel sollte sein, die
verwarlosten Kinder für ein sittliches Leben in Wahrheit
und Liebe zu erwärmen.
Pestalozzi erkennt die gesellschaftliche Situation und
seine Rolle, geschildert in den Armenschriften, am
deutlichsten in den drei Briefen an den einflussreichen
Niklaus Emanuel Tscharner,
ein Gönner Pestalozzis aus einer vornehmen
Regierungsfamilie der Stadt und des Kantons
Bern. Birr ist damals
zu Bern gehörendes Gebiet, und Tscharner von 1767 bis 1773
der Landvogt. Tscharner veröffentlicht seinerseits Werke
über Armenerziehung 1776/77 in den "
Ephemeriden der Menschheit",
eine Zeitschrift für politische Ethik, herausgegeben vom
Basler Ratsschreiber
Isaak
Iselin. Der Praktiker Pestalozzi muss dabei so
manches in den theoretisch gehaltenen Schriften Tscharners
richtigstellen, drei Briefe, die ebenfalls in den
"Ephemeriden" veröffentlicht sind.
Pestalozzi bleibt weiterhin zu wenig kapitalistisch, und
auch seine Armenanstalt geht bankrott. Pestalozzi gerät in
die Schuldenfalle: Er borgt sich Geld bei Freunden,
Bekannten, Verwandten und am Ende reicht er 1775 eine
Bitte um ein Darlehen an die Öffentlichkeit. Er verspricht
seinen Geldgebern die Rückzahlung der geschuldeten Gelder,
weil er überzeugt ist, dass die Kinder im Erwachsenenalter
den Betrieb profitbringend unterhalten könnten. Pestalozzi
täuscht sich aber: Die Kinder werden - frisch
eingekleidet, gut genährt und ausgebildet - von den Eltern
jeweils weggeholt, um sie profitbringend im eigenen Haus
zu beschäftigen. Gleichzeitig mangelt es den Produkten der
Armenanstalt an Qualität mit entsprechenden Billigpreisen
auf dem Markt ohne genügende Einnahmen.
Weitere Missernten 1776 und 1777 mindern die Einnahmen
zusätzlich. Ein Unwetter 1777 vernichtet Pestalozzis Ernte
fast vollständig. Die Vorräte für den Winter müssen
gekauft werden. 1778 verzichtet seine
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Franziska Romana von Hallwil,
Portrait
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Frau Anna sogar auf ihr Erbe, damit die Pestalozzis ihre
Schulden bezahlen können. Und 1779 muss Pestalozzi etwa
einen Drittel seines Landes versetzen lassen. Pestalozzis
Bruder
Baptist sollte
den Handel durchführen und Pestalozzi dann den erlösten
Betrag abgeben, aber Baptist macht sich mit der hohen
Geldsumme über alle Berge. Am 17. Februar 1780 schreibt er
aus
Amsterdam einen
Reuebrief
an Annas Cousin
Johann
Georg Schulthess, er habe seine liebende Mutter
enttäuscht und werde sie nie mehr sehen. Sodann hört man
nie mehr etwas von ihm. Eventuell ist er in fremden
Kriegsdiensten gestorben oder nach "Amerika"
ausgewandert...
In seinem Lebensrückblick im "
Schwanengesang" schreibt Pestalozzi:
"Unser Unglück war
entschieden. Ich war jetzt arm." (Kritische
Gesamtausgabe, PSW 28, S. 234).
Zu diesem Zeitpunkt wollen mit Pestalozzi weder Freunde
noch Verwandte etwas zu tun haben. Die Nachbarn verhöhnen
ihn zusätzlich. Die Frau Anna Pestalozzi wird von der
vielen Arbeit krank und muss sich auswärts über Monate
erholen, vor allem bei der Gräfin
Franziska Romana von
Hallwil, seit 19
Witwe, mit seelischer Freundschaft zu Pestalozzi selbst.
In dieser Situation halten noch zwei Menschen zu
Pestalozzi:
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Isaak Iselin
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-- die Magd
Elisabeth
Näf ("Lisabeth"), die seit 1780 ca. auf dem
Neuhof ist (1762-1836) und auf dem Neuhof die
verwilderten Gärten in Ordnung hält, von Anna Pestalozzi
geachtet und bis 1825 im Pestalozzi-Haushalt
-- der Ratsschreiber
Isaak
Iselin der Stadt
Basel, der Pestalozzi weiter seine Liebe
und Hochachtung erweist, ein Vertreter der
"Philanthropen" (Menschen- freunde), eine Reformbewegung
aller Lebensbereiche in Anlehnung an Rousseau: Er rettet
Pestalozzi mit seinen Schreiben an ihn aus der
Verzweiflung.
Pestalozzi träumt weiterhin davon, erfolgreich eine
Armenanstalt zu führen. Für kurze Zeit wird er in Stans,
Burgdorf, und für längere Zeit in Yverdon seine Träume
realisieren können.
Der Schriftsteller Pestalozzi: Bücher, Schriften und
Bilder als öffentliche Mahnung zur Verbesserung der
sozialen Umstände
Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier,
Gerhard Kuhlemann: Der Schriftsteller Pestalozzi;
http://www.heinrich-pestalozzi.info
Pestalozzi ist bankrott, hält aber an seinem Ziel fest, die
sozialen Umstände auf der Welt verbessern zu wollen. Er
flüchtet in die Malerei und Schriftstellerei, um die
Umstände für die Kinder öffentlich anzuklagen: Von Isaak
Iselin dazu ermutigt malt und schildert er die Menschen und
ihre Lebensverhältnisse. Es entstehen über 60 grössere und
kleinere Schriften, darunter die beiden Volksbücher "
Lienhard und Gertrud"
(vier Bände, im 4. Band im 41. Kapitel die "
Leutnantsphilosophie")
sowie "
Christoph und Else",
des weiteren "
Abendstunde",
"
Über Gesetzgebung und
Kindermord", "
Schweizer
Blatt", "
Fabeln"
und "
Nachforschungen".
Pestalozzi zeigt sich dabei als kenntnisreicher Soziologe,
mit juristischen und historischen Details, als Romanautor,
als Erzieher, Politiker und Philosophen, der sich mit
Grundsatzfragen auseinandersetzt.
Die Zeit zwischen 1780 und 1798 gilt bei Pestalozzi als
fruchtbarste Zeit des Schreibens und als "Zeit der grossen
Lebenskrise". Pestalozzi leidet zunehmend unter seiner
eigenen Armut, unter Vereinsamung, unter der Verachtung, und
insbesondere unter dem allgemeinen Urteil, er sei
unbrauchbar. Im Lernprozess findet er den
Weg zwischen der Gutheit und
des Egos des Menschen, der beherrscht werden muss.
Der Glaube an die inneren Kräfte im Menschen und auch die
religiösen Gefühle erkalten, er wird z.T. sogar
menschenverachtend. Die Reihe von Bankrotten ist für ihn
eine Schande, aber an den Führungsqualitäten arbeitet er
weiterhin nicht.
Teilweise ist er weiter auf dem Hofe tätig, betreibt als
Kleinunternehmer Heimarteit im Bereich der Stoffdruckerei,
knüpft neue Beziehungen mit Persönlichkeiten im In- und
Ausland und sucht immer neu nach einem pädagogischen oder
politischen Betätigungsfeld. Er spekuliert auf eine
Anstellung am kaiserlichen Hof in Wien, die ihm sein Freund
Iselin vermitteln könnte, unter dem sozial fortschrittlich
gesinnten
Kaiser Joseph
II. Er schreibt Kritiken über Bücher, vermittelt in
politisch angespannten Situationen und bewirbt sich als
Stadtbürger von Zürich sogar als Direktor einer Zürcher
Seidenfabrik, nur um ein sicheres Auskommen zu haben.
Im Buch "
Lienhard und
Gertrud" schildert Pestalozzi sich selbst im
Briefkontakt mit dem kaiserlichen Finanzminister in Wien,
Graf
Karl Johann Christian
von Zinzendorf, und ab 1787 auch mit dem Bruder des
Kaisers,
Herzog Leopold
von Toscana. Pestalozzi verspricht sich bis etwa
1792 eine innere Erneuerung des Adels durch seine
erfolgreichen Werke und dadurch eine Anstellung beim Adel.
Nachdem das Werk ohne Wirkung bleibt, wird es 1790/92
gekürzt in drei Bände umgearbeitet. Nach dem Tod von
Joseph II. 1790 und
dessen Nachfolger
Leopold
1792 brechen die Beziehungen Pestalozzis zu Wien ab
Die Schrift "
Über
Gesetzgebung und Kindermord" ist im Zusammenhang
mit der Preisfrage in Deutschland verfasst: "Welches sind
die besten ausführbaren Mittel, um den Kindsmord zu
verhüten, ohne dabei die Unzucht zu begünstigen?" Die 100
Dukaten Preisgeld - von einem Unbekannten gestiftet -
sollten Anreiz zur aufklärerischen Revision der
Strafgesetzgebung und des Strafvollzugs sein, um jeweils
auch die Beweggründe der jungen Mütter zu ergründen.
Das "
Schweizer Blatt"
ist eine literarische Wochenzeitschrift Pestalozzis im Jahr
1782 zur Veröffentlichung eigener Texte. Die Texte sind aber
dermassen anspruchsvoll, dass das Blatt keinen grossen
Absatz findet und noch im selben Jahr wieder von der
Bildfläche verschwindet.
Im Jahr 1797 publiziert Pestalozzi sein bedeutendstes
philosophisches Werk: "
Meine
Nachforschungen
über den Gang der Natur in der Entwicklung des
Menschengeschlechts". Es ist der Mittelweg zwischen
Ideal, Realismus und Pessimismus, mit Unterscheidung
einer "tierischen", "niederen", "sinnlichen" Natur
einerseits und einer "höheren", "ewigen", "inneren",
"göttlichen" Natur andererseits. Dieses spannungsgeladene
Schema der geistigen Welt behält Pestalozzi während seines
ganzen Lebens bei.
Pestalozzi und die Revolution:
Ehrenbürger von Frankreich - das differenzierte Urteil
über die Revolution - politische Vermittlungstätigkeiten -
der französische Raubzug - Helvetisches Volksblatt
Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier,
Gerhard Kuhlemann: Pestalozzi und die Revolution;
http://www.heinrich-pestalozzi.info
Auch während der Revolution und des Sturzes der Monarchie in
Frankreich ab 1789 meint Pestalozzi noch, "den reinen
Absolutismus" mit einer sozialen Durchdringung der
Strukturen retten zu können. Am 26. August 1792 wird er aber
überraschend neben 16 weiteren bedeutenden Persönlichkeiten
Europas als einziger Schweizer durch die französische
Nationalversammlung zum Ehrenbürger Frankreichs ernannt.
Viele Anliegen der französischen Revolutionäre stimmen mit
Pestalozzis Idealen überein, so z.B. ihre Vorstellungen im
Bereiche der Handels und Gewerbefreiheit, der
Pressefreiheit, der Religionsfreiheit, der Beseitigung
ungerechter Abgaben, des Steuerrechts und der Verbesserung
der Volksbildung. Es gibt aber auch deutliche Unterschiede
bei der Gleichheit, die Pestalozzi nie besonders hoch
wertet, und beim Verständnis der Freiheit, die Pestalozzi
sehr differenziert betrachtet.
Ab der Ernennung zum Ehrenbürger Frankreichs ist der
demokratische Gedanke bei Pestalozzi allgegenwärtig. Über
die Revolution urteilt er aber differenziert, lehnt jedes
Blutvergiessen und Gewalt ab, z.B. in seiner nie
gedruckten Revolutionsschrift "
Ja oder Nein?".
Ludwig XIV. habe alle Menschen gleich
schlecht gemacht, und so benehmen sie sich in der Revolution
auch als solche. Die Revolutionäre vollenden bloss, was der
Absolutismus an Boden gelegt hat.
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Johann
Kaspar Lavater, Pfarrer am Fraumünster
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Auch in der Schweiz erheben sich nun unterdrückte
Bevölkerungsschichten gegen die etablierten Aristokratien.
Die Neureichen der Textilindustrie verlangen politische
Rechte, eine Verfassung mit Rechten für die Einwohner der
Landschaft, Handelsfreiheit, Gewerbefreiheit, höheren
Schulbesuch auch für Landkinder, die Offiziersausbildung
auch für Landkinder, ein gerechtes Steuersystem mit
Belastung auch der Händler, Industriellen und Bürger der
Stadt und mit Entlastung der Bauern und mit der Forderung,
dass kleinere Gemeinden und Städte die Rechte
zurückerhalten, die die Städte ihnen geraubt hatten. Als die
Städte mit Verhaftungen und Verbannungen reagieren, wird
Pestalozzi zum Anwalt des Volkes und verfasst drei
Schriften. Am 5. Juli 1795 besetzt Zürich überraschend die
Stadt
Stäfa. Die
Vermittlung von Pestalozzi zusammen mit seinem Jugendfreund
und Fraumünsterpfarrer
Johann
Kaspar Lavater kann Todesurteile verhindern.
Ab 1793 beginnt
Napoleon mit
seiner
kriegerischen Strukturreform in ganz Europa mit Feldzügen in
Italien, 1794 in der
Schweiz. Pestalozzi
rechnet damit, dass Frankreich Druck ausüben und die Schweiz
den Strukturwandel so selber schaffen könnte. Dabei
übersieht Pestalozzi den Geldhunger des französischen
Staates. Im
Februar 1798
wird der Landbevölkerung in der ganzen Schweiz die
Gleichberechtigung zugestanden mit Versprechen einer auf
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
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Napoleon
lässt rauben
und vergewaltigen...
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beruhenden Verfassung, und trotzdem rücken die Franzosen
Anfang
März 1798
mit 15'000 Mann ein, brechen den letzten Widerstand,
besetzen das Land, rauben die Staatskassen aus, indem sie
das Gold fassweise auf schweren Ochsenkarren nach Paris
abführen, plündern das Land aus und schänden Frauen und
Töchter. Der Zürcher Pfarrer
Lavater beschwört in einer Proklamation den
Widerstand.
Frankreich etabliert in der Schweiz einen zentralistischen
Einheitsstaat ("
Helvetische
Republik") mit willkürlicher neuer Einteilung der
Kantone, die aber nur noch die ausführende Funktion des
Grossen Rates (Legislative) und des fünfköpfigen
Direktoriums (Exekutive) sind. Die fortschrittliche
Verfassung gewinnt so keine Sympathie trotz eines wahrhaften
Weitblicks der bedeutenden Männer des Direktoriums.
Pestalozzi sieht gleichzeitig seine seit 30 Jahren
geäusserten sozialen und politischen Forderungen erfüllt und
entschliesst sich trotz der undemokratischen Struktur, dem
Staate zu dienen. Als Freund einer der
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Philipp Albrecht Stapfer
(1766 -1840)
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fünf Direktoren,
Philipp
Albrecht Stapfer, übernimmt er die Redaktion des "
Helvetischen Volksblatts",
das eigentliche Sprachrohr der helvetischen Regierung. In
dieser Funktion als Redaktor, aber auch in zahlreichen
Flugschriften versucht nun Pestalozzi, dem Volk den Sinn und
die Chance der Revolution verständlich zu machen, ermahnt
aber gleichzeitig auch die neuen Machthaber, sich wirklich
an ihre Versprechen zu halten.
Da die Revolutionäre auch die Kirche und das Christentum
massiv angreifen und den Pfarrern jede politische Tätigkeit
verbieten, Predigten und das Lehren sogar polizeilicher
Kontrolle unterstellen, gewinnt die neue Verfassung keine
Freunde. Mit fremden Truppen im Land und einem unter
Waffengewalt erzwungenen Eid auf die neue Verfassung fühlt
sich die Bevölkerung sowieso nicht frei. Daher bleibt
Pestalozzis Tätigkeit als Redaktor ohne Erfolg. Seine
belehrenden und oft herablassenden Texte wirken
unangebracht. Trotzdem bleibt er bis Ende 1798 Leiter der
Zeitung "Helvetisches Volksblatt".
Die Zehntenfrage: Abschaffung der Zehnten-Steuer, ohne
allgemeine Steuergesetze geschaffen zu haben -
Pestalozzi-Schriften zum Zehnten - Untergang der
"Helvetischen Republik"
Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier,
Gerhard Kuhlemann: Die Zehntenfrage;
http://www.heinrich-pestalozzi.info
In besonderer Weise engagiert sich Pestalozzi in der Frage
des "Zehntens". Durch die Abgabe von 10 % der
Landwirtschaftserträge sollte der Lebensunterhalt von
Seelsorgern im Dienst der christlichen Verkündigung
finanziert werden. Mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft wird
die Abgabe zu einer Steuer an Kirche und Klöster. Nach der
Reformation und nach der Aufhebung der Klöster wird die nur
von den Bauern entrichtete Zehnten-Steuer vom Staat
eingetrieben zur Finanzierung von Schulen, Spitälern,
Armenanstalten, Kirchen und Privatpersonen. Die Aristokratie
bleibt aber weiterhin steuerfrei, und reiche Bauern können
sich von der Zehnten-Steuer loskaufen, z.B. durch
Zusatzverdienste in der Baumwollindustrie. Traditionell
haben sich die Bauern der
Innerschweiz
(Uri, Schwyz, Unterwalden) längst von der
Zehntenpflicht losgekauft.
Die Franzosen versprechen bei ihrem Einmarsch im März 1798
die Abschaffung der Zehnten-Steuer. Dann agieren die
Franzosen aber überhastet, schaffen bereits im Mai 1798
schaffen alle Feudallasten ab, ohne aber ein allgemeines
Steuergesetz geschaffen zu haben. So bleibt der Staat ohne
Einnahmen. Die Bevölkerung streitet währenddessen, ob der
Zehnten als eine öffentliche Abgabe oder eine
privatrechtliche Schuld zu gelten habe. Im zweiten Fall
ergibt sich die Notwendigkeit des Loskaufs im Sinne der
Rückerstattung einer Schuld.
Pestalozzi veröffentlicht zum Zehnten-Thema im Sommer 1798
das sog. "
Erste
Zehntenblatt" ("
Über
den Zehnten"), eine Schrift in der Form eines
Bauerngesprächs. Pestalozzi zeigt darin einerseits, dass der
Zehnten ungerecht ist, den landwirtschaftlichen
"Fortschritt" hemmt und eine allgemeine Vermögenssteuer
angebracht wäre. So entwickelt er den Plan, die oft brach
liegenden Gemeindegüter zu privatisieren, sie dadurch einer
intensiveren Nutzung zuzuführen und gleichzeitig mit dem
Erlös die bisherigen Besitzer der Zehntrechte zu
entschädigen. Damit wäre wieder eine Win-Win-Situation
geschaffen bei einem Lastenausgleich für den gesamten
sozialen Organismus.
Pestalozzis schwer verständliche Schrift wird aber weitherum
missverstanden und man beschimpft ihn als Anhänger der
"Zehntendiebs-Bande". Pestalozzi lässt ein "
Zweites Zehntenblatt"
folgen: "
Abhandlung über
die Natur der helvetischen Zehnten und Bodenzinse und die
Unpassendheit aller ihrethalben in der Revolutionszeit
genommenen Massregeln". Er stellt die Entwicklung
des Zehntens vom Mittelalter her einleuchtend dar und weist
schlüssig nach, wie aus einer ursprünglich privatrechtlichen
Abgabe allmählich eine ungerechte öffentliche Steuer wurde
und dass ein Loskauf die Bauernschaft ruinieren müsste.
Gleichzeitig sieht er aber, wie sich die Situation der neuen
Helvetischen Republik katastrophal verschlechtert und zur
Rettung des neuen Staates alle andern Ziele untergeordnet
werden müssen. Es geht ihm wiederum in erster Linie um das
Wohl des Ganzen. Darum fordert Pestalozzi die Bauern am Ende
der Schrift auf, den Zehnten zu entrichten, bis neue Gesetze
die Einkommen des Staates regeln. Aber niemand hört auf
Pestalozzi, und die "Helvetische Republik" geht dann auch
bald unter...
Stans und der Stanser Brief: 1798-1799 - das
politische Ende eines Waisenhauses im Frauenkloster -
ganzheitliches Erziehungskonzept im Stanser Brief
Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier,
Gerhard Kuhlemann: Stans und der Stanser Brief:
1798-1799; http://www.heinrich-pestalozzi.info
Pestalozzi in Stans mit Kindern. Ölgemälde von
K. Grob, 1879 (Kunstmuseum Basel).
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Pestalozzi in Stans mit
Kindern im Sonnenlicht. Ölgemälde von A.
Anker, 1870 (Kunstmuseum Zürich).
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Die Eröffnung der Armenanstalt unter den Spannungen der
französischen Besetzung
Stans wird zum
Ausgangspunkt des Mythos "Pestalozzi", vor allem durch die
beiden bekannten Ölgemälde von
Grob (1879) und
Anker (1870): Pestalozzi als Waisenvater
inmitten von Kindern im Sonnenlicht. Die
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Karte: Die Lage von Stans und
die Bezirke des Kantons Niedwalden.
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Realität aber ist viel komplexer.
Nach dem französischen Einmarsch und dem endgültigen
Zusammenbruch der "Alten Eidgenossenschaft" macht Pestalozzi
bereits im Mai 1798 erste Angebote zur Verwirklichung seiner
Volkserziehungspläne. Das Direktorium - die fünfköpfige
Exekutive der "Helvetischen Republik" - bewilligt auch einen
grösseren Geldbetrag für die Einrichtung eines Instituts. Es
fehlt aber ein geeigneter Standort.
Gleichzeitig nehmen die Spannungen innerhalb der
"Helvetischen Republik" wegen der Bildung eines
Zentralstaates immer mehr zu. Die Innerschweizer sehen z.B.
ihren katholischen Glauben bedroht und Frankreich antwortet
mit Strafexpeditionen, so dass am Ende nur noch
Niedwalden gegen
Frankreichs Zentralpolitik hält. Pestalozzi äussert sich im
"Helvetischen Volksblatt" für einen französischen Einmarsch,
weil die Einheit des Staates auf dem Spiel stehe. Naiv
glaubt er an friedlich patrouillierende französische
Soldaten. Niedwalden wird aber nicht nur besetzt, sondern
auch gebrandschatzt: Auch Stans wird abgebrannt. Bei dieser
Gelegenheit wird von der Regierung beschlossen, in
Stans eine Anstalt für
die verwaisten Kinder zu eröffnen und dem reformierten
Pestalozzi die Leitung des Hauses zu übertragen.
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Wasserschloss Hallwil
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Die Eröffnung der Armenanstalt von Pestalozzi am
14. Januar 1799 im
ehemaligen
Frauenkloster
[St. Klara] von Stans steht unter keinem guten
Stern: Die Bevölkerung ist katholisch, und Pestalozzi hat
die Besetzung befürwortet. Unterstützung erhält Pestalozzi
einzig vom katholischen Pfarrer von Stans,
Businger, der Neuerungen
aufgeschossen ist. Nach 6 Wochen sind bereits über 80 Kinder
aufgenommen, nur von Pestalozzi und einer Magd betreut.
Pestalozzi rechnet damit, nun all seine pädagogischen Ideen
seit 20 Jahren in die Praxis umsetzen zu können. Seine Frau
Anna Pestalozzi ist derweil auf
Schloss Hallwil bei der Gräfin
Franziska Romana. Seine
Vision, dass er "eine der grössten Ideen des Zeitpunkts"
verwirklichen würde, kommt u.a. in Briefen nach Hallwil zum
Ausdruck (Kritische Gesamtausgabe, PSB 4, S. 18).
Die Struktur im Armenhaus: Sittlichkeit in drei Stufen:
Fühlen, Handeln und Denken - die Gegner bewirken die
baldige Schliessung - Militärlazarett - "Stanser Brief"
1799
Im Vordergrund steht sittliche Erziehung in einer konkreten
Lebensgemeinschaft und in Auseinandersetzung mit den
Erfordernissen des Alltags. Die Sittlichkeit soll sich dabei
in drei Stufen entwickeln, mit der
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Heinrich
Zschokke: Der ursprüngliche Brandenburger
betreibt den Misserfolg von Pestalozzi
[vielleicht auch aus politischen Gründen als
Rache, dass Pestalozzi den französischen
Einmarsch befürwortet hatte, statt sich an der
deutschen Seite zu orientieren? Wir wissen es
nicht].
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Befriedigung primärer Bedürfnisse als erstes, mit dem
Antrainieren von Gewohnheiten im Tun des Guten und als
drittes in Konversation über Sittlichkeit. Fühlen (Herz),
Handeln (Hand) und Denken (Kopf) sollten gleichsam den
Willen sittlich beherrschen lernen. Sittlichkeit soll nicht
mit rationaler Einsicht, sondern im emotionalen Bereich
verwurzelt werden. Schule findet zwischen 6 und 8 Uhr am
Morgen und 4 und 8 Uhr am Abend statt, dazwischen
handwerkliche Ausbildung. Zur Organisation der Verbindung
von Praxis und gedächtnismässigem Lernen bleibt ihm kaum
Zeit.
Die Armenanstalt hat aber grosse Gegner:
Heinrich Zschokke,
Regierungskommissar in
Luzern,
will den allseits heftig kritisierten Pestalozzi nicht mehr
länger dulden, und auch der Stanser Pfarrer
Businger wendet sich
mehr und mehr mit der Meinung der Bevölkerung gegen
Pestalozzi. So erscheint es praktisch, dass das
ehemalige Frauenkloster in Stans in ein französisches
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Karte:
Position des Gurnigelbad zwischen Bern und
Thun.
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Militärlazarett umgewandelt werden kann. Die Kinder werden
auf Verwandte verteilt, und nur 22 bleiben in Obhut: bei
Pfarrer Businger.
Pestalozzi verlässt Stans am
9. Juni 1799, physisch überarbeitet und im
psychischen Schock wegen des plötzlichen Abbruchs seines
Erziehungswerks. Es folgen einige Wochen Erholung im
Gurnigelbad im Berner
Oberland beim Wirt
Zehender
und die Niederschrift seiner Erfahrungen und
Überlegungen im bis heute viel zitierten und interpretierten
"
Stanser Brief": "
Brief an einen Freund über
meinen Aufenthalt in Stans".
Der Empfänger des Stanser Briefs ist nicht mehr
feststellbar. Mögliche Empfänger des Briefs sind der Zürcher
Buchhändler
Heinrich
Gessner, der auch der Adressat der 14 Briefe "
Wie Gertrud ihre Kinder lehrt"
war, oder der pädagogisch interessierte Sekretär des
helvetischen Ministers Stapfer,
J. R. Fischer, der Pestalozzi den Aufenthalt
im Gurnigelbad vermittelt hatte. Die Veröffentlichung des
Briefs erfolgt erst 1807 zusammen mit Anmerkungen
Niederers während des
Aufenthalts von Pestalozzi in
Yverdon im ersten Band der "
Wochenschrift für
Menschenbildung". Im 9. Band der Cotta-Ausgabe von
1822 erscheint der Brief dann ohne Niederers Anmerkungen.
Dieser Ausgabe folgt die Wiedergabe in der kritischen
Gesamtausgabe von Pestalozzis Werken: PSW 13, S. 1-32.
Der "
Stanser Brief"
lässt erahnen, unter welchen Schwierigkeiten Pestalozzi
stand:
-- es galt, die Situation
der Kinder zu verstehen
-- es galt die Vorbehalte gegen Pestalozzi als Vertreter
der Helvetischen Republik und als Reformierter zu
überwinden (Kritische Gesamtausgabe, PSW 13, S. 5 und S.
8-9).
-- es galt, die Gemeinde auf einen Zusammenhang von
öffentlicher und häuslicher Erziehung aufmerksam zu machen
-- es galt, die drei Stufen der sittlichen Erziehung zu
realisieren: "Allseitige Besorgung" und Aufbau von
Vertrauen, sittliches Handeln, zuletzt die Reflexion und
das Gespräch darüber
(Kritische Gesamtausgabe, PSW 13, S. 9-10, S. 16 und
S. 19; und PSW 13, S.8)
-- Realisierung der Verbindung von Unterricht und
manueller Industriearbeit - Kinder sollen sich
untereinander helfen - Elementarisierung des ersten
Unterrichts, damit die Mütter die Erziehung zum Teil
interaktiv übernehmen können (Kritische Gesamtausgabe, PSW
13, S. 26, S. 29 und S. 30).
[Ein grosser Fehler der
Pestalozzi-Pädagogik: Traumatische Besorgungen
Die Verrichtung "allseitiger Besorgungen" ist für die Kinder
absolut langweilig. Die Kinder müssen keine "allseitigen
Besorgungen" machen, um Vertrauen gegenüber pädagogisch
ausgebildeten Leuten aufzubauen. Die Verrichtung
"allseitiger Besorgungen" wirkt
gegen die Phantasie, so dass die Kinder oft
inneren Widerstand
gegen die Leitpersonen entwickeln. Kinder, die gerne die
Verrichtungen machen, werden auch von anderen Kindern
angefeindet. Eine weitere Folge ist, dass "ungezogene"
Kinder jeweils auch mit den Besorgungen bestraft werden und
dass die "Besorgungen " dann
traumatische Wirkung haben].
Burgdorf und Münchenbuchsee: 1799-1804/05: Erfolge
durch Anschauungsunterricht - die Mediationsverfassung
unter Mitwirkung von Pestalozzi in Paris
Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier,
Gerhard Kuhlemann: Burgdorf und Münchenbuchsee
1799-1804/05; http://www.heinrich-pestalozzi.info
Der Entschluss, Lehrer zu werden - erfolgreicher
Anschauungsunterricht in Burgdorf
Pestalozzi ist weiterhin sehr beunruhigt über die desolaten
Zustände in den meisten Dorfschulen. In "
Wie Gertrud ihre Kinder lehrt"
schildert er die "unpsychologischen Schulen" als "künstliche
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Karte: Die
Positionen von Burgdorf und Münchenbuchsee.
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Erstickungsmaschinen". Ab dem fünften Altersjahr
"macht man auf einmal die
ganze Natur um sie her vor ihren Augen verschwinden;
stellt den reizvollen Gang ihrer Zwanglosigkeit und ihrer
Freiheit tyrannisch still; wirft sie wie Schafe in ganze
Haufen zusammengedrängt in eine stinkende Stube; kettet
sie Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre unerbittlich
an das Anschauen elender, reizloser und einförmiger
Buchstaben und an einen mit ihrem vorigen Zustand zum
rasend werden abstechenden Gang des ganzen Lebens."
Pestalozzi vergleicht diesen Vorgang als einen Schritt "vom
Leben zum Tode" (Kritische Gesamtausgabe, PSW 13, S.
198-199).
[Aber mit den "allseitigen Besorgungen tötet man die
Phantasie der Kinder ebenfalls].
Pestalozzi will nun 53-jährig auch noch Lehrer werden, ein
damals schlecht bezahlter und verachteter Beruf. Der
helvetische Erziehungsminister
Stapfer hätte Pestalozzi lieber die Leitung
einer neu zu errichtenden
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Das Schloss Burgdorf um 1760
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Lehrerbildungsanstalt übertragen, denn eine geordnete
Lehrerbildung fehlte dem neuen Staat. Aber Pestalozzi wollte
zuerst seine Erfahrungen mit kleinen Kindern machen. Stapfer
ernennt seinen Sekretär
Rudolf
Fischer zum Seminardirektor und weist ihm das
Schloss
Burgdorf als
Wirkungsstätte zu. Fischer ermöglicht Pestalozzi eine Stelle
am Schloss in Burgdorf.
Die skeptischen Stadtbehörden lassen Pestalozzi aber vorerst
nur an der sog.
Hintersassenschule
zu. Pestalozzi revolutioniert nun den
Schulunterricht: Er sucht eine natürliche, psychologische
Art zu unterrichten. Beim Lernvorgang sollen alle Sinne
gleichzeitig angesprochen sein. Schulbücher braucht es
nicht. Dem Lesen sollte das Denken vorausgehen, und alles
Erkennen sollte auf
Anschauungsunterricht
beruhen. Nach acht Monaten werden seine Schüler
geprüft, und die Erfolge sind so deutlich, dass man ihm eine
der höheren Knabenklasse in der Stadt anvertraut.
Seminardirektor
Fischer eröffnet
gleichzeitig
sein Seminar, erkrankt aber schwer und stirbt kurz darauf
(4. Mai 1800). Pestalozzi kann nun seine Knabenklasse mit
der von Fischer gegründeten Schule auf dem Schloss
vereinigen und legt so den Grundstein für sein
Erziehungsinstitut in Burgdorf,
eine Verbindung von Knabenschule, Pensionsanstalt für
auswärtige Schüler, Lehrerseminar und Waisenhaus bzw.
Armenschule. Das Unterrichten sollte in eine
Lebensgemeinschaft eingebettet sein, in der die Kräfte von
Kopf, Hand und Herz harmonisch entfaltet werden
können. Pestalozzi gewinnt für seine Idee eine Reihe
tüchtiger Mitarbeiter, und die helvetische Regierung
unterstützt das Unternehmen sehr.
Das Seminar hat hohen Zulauf. Pestalozzi arbeitet mit seinen
Mitarbeitern intensiv an der Entwicklung einer neuen
Unterrichtsmethode, um gegenüber der Öffentlichkeit
pädagogisch eine klare Rechenschaft ablegen zu können. Es
entstehen mehrere kleinere Schriften, darunter die
grundlegende Schrift "
Wie
Gertrud ihre Kinder lehrt". Pestalozzi wird zum
grossen Erzieher und Erneuerer der Volksschule. Gelehrte und
Politiker kommen zu Hunderten aus allen Ländern, um
Pestalozzi und seine Mitarbeiter bei der Arbeit zu sehen und
die Unterrichtserfolge zu bestaunen. Burgdorf wird - wie
später Yverdon - zur Pflichtstation auf den in Mode
kommenden Bildungsreisen in die Schweiz und nach Italien.
Am 15. August 1801 stirbt Pestalozzis einziger Sohn
Jean Jacques mit erst 31
Jahren. Dessen Ehefrau zieht zu Pestalozzi nach Burgdorf,
und ein Jahr ebenso Pestalozzis Frau Anna.
Bürgerkrieg gegen den Einheitsstaat - Ausarbeitung der
Mediationsverfassung in Paris mit Pestalozzi - Pestalozzis
Forderungen für die neue Staatsform der Schweiz
Nach dem Rückzug der französischen Truppen aus der Schweiz
1802 geht der Bürgerkrieg für oder gegen einen helvetischen
Einheitsstaat in eine weitere Runde.
Napoleon lässt
daraufhin die Schweiz erneut besetzen und befiehlt für den
Winter 1802/1803 eine Versammlung von schweizer Abgeordneten
nach
Paris zur
Ausarbeitung einer neuen Verfassung (
Mediationsverfassung).
Pestalozzi wird sowohl von seiner Heimatstadt
Zürich als auch von der
Stadt
Burgdorf nach
Paris entsandt, reist dann aber vorzeitig wieder ab und
nimmt nicht mehr am feierlichen Schlussempfang am 19. Febr.
1803 in den Tuilerien teil. Er verpasste damit die einzige
Gelegenheit, Napoleon direkt zu begegnen.
In verschiedenen Denkschriften fordert Pestalozzi nun neue
staatliche Strukturen:
-- keine Wiedereinführung
des Zehnten
-- kein Zensus (Wahlrecht nach Vermögen)
-- gerechtere Steuerbelastung
-- Ausbau der allgemeinen Volksbildung.
In der Mediationsverfassung von 1803 fehlt jedoch ein
Erziehungsartikel, und der lockere Bund der weitgehend
selbständigen Kantone wird wieder eingeführt. Die Zürcher
Kantonsverfassung beispielsweise definiert politische
Freiheit und Gleichheit der Bürger, schränkt aber durch
Zehntrechte und Zensuswahlrecht die Gleichheit wieder ein.
Eine volle Gleichberechtigung erfahren nur die besitzenden
Oberschichten, und Pestalozzis Denkschriften hatten (noch)
keine durchschlagende Wirkung.
[Die Napoleonischen Vorgänge waren auch mit Gebietsverlusten
für die Schweiz verbunden]:
Karte der Schweiz
1789
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Karte der Schweiz
1806
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Pestalozzis Erziehungsbuch: "Buch der Mütter oder
Anleitung für Mütter ihre Kinder bemerken und reden zu
lehren" 1803
Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier,
Gerhard Kuhlemann: Yverdon 1804-1825;
http://www.heinrich-pestalozzi.info
Bereits 1803 erscheint diese Anleitung Pestalozzis für die
Mütter (Kritische Gesamtausgabe, PSW 15, S. 341-424),
weitgehend bearbeitet von seinem Mitarbeiter
Hermann Krüsi. Die
wichtigsten Themen sind die Anschauung von Problemen, die
Erkenntnis der Situation und die Erkenntnis der betroffenen
Menschen selbst. Das Buch enthält Übungen im Anschauen und
Benennen des eigenen Körpers und der durch den Körper
möglichen Tätigkeiten. Für Pestalozzi ist dieses Werk aber
erst ein Versuch, ein erster Anfang.
Pestalozzi ohne Zentralstaat - Bern lässt Schloss
Burgdorf räumen - Münchenbuchsee - Zusammenarbeit mit
Fellenberg scheitert - Schloss Yverdon auf Lebenszeit für
Pestalozzi
Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier,
Gerhard Kuhlemann: Burgdorf und Münchenbuchsee
1799-1804/05; http://www.heinrich-pestalozzi.info
Für Pestalozzi hat die neue Mediationsverfassung
schwerwiegende Auswirkungen, denn die Unterstützung durch
die Zentralregierung ist verloren. Berns Regierung verlangt
auch die Schliessung des Instituts auf den 1. Juli 1804, um
dem neuen Berner Oberamtmann eine Residenz einzurichten.
Pestalozzis Institut zieht zuerst in ein verfallenes Kloster
in
Münchenbuchsee,
in Nachbarschaft zu einem Mustergut und einer
Erziehungsanstalt in
Hofwil
unter Leitung von
Philipp
Emanuel von Fellenberg. Fellenberg besticht durch
ökonomisches Denken. Die Zusammenarbeit mit Pestalozzi
scheitert im Jahr 1804 genau am ökonomisch kurzsichtigen
Denken: Fellenberg duldet nicht, dass Pestalozzi Zöglinge
aus armen Verhältnissen gratis in seine Anstalt aufnimmt.
Nun aber scheint Pestalozzi endlich Glück zu haben: Der neu
gegründete Kanton
Waadt (
Vaud, zuvor bernisches
Besatzungsgebiet) stellt Pestalozzi nach dem Abzug der
Berner Vögte das Schloss
Yverdon
(deutsch
Iferten)
für sein Erziehungsinstitut auf Lebzeiten unentgeltlich zur
Verfügung.
Karte des Kanton Waadt mit Yverdon
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Schloss Yverdon (Iferten)
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[Die viereckige Burgarchitektur mit Rundtürmen an den Ecken
ist eine Nachahmung arabischer Architektur aus Palästina,
kopiert zur Zeit der Kreuzzüge].
Yverdon (Iferten): 1804-1825: Blühendes
Pestalozzi-Institut - Verluste durch Druckerei -
Lehrerstreit - Einnahmen durch Publikationen - Clendy
Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier,
Gerhard Kuhlemann: Yverdon 1804-1825;
http://www.heinrich-pestalozzi.info
Gemeinsam mit drei Lehrern baut Pestalozzi ab August 1804 im
Schloss Yverdon (Iferten) sein neues Institut auf. In
Münchenbuchsee macht sich Fellenberg durch selbstherrische
Entscheide bei Pestalozzis Leuten und Kindern unbeliebt, so
dass diese ab 1805 ebenso nach Yverdon umsiedeln.
Pestalozzis Institut strahlt nun als pädagogischer Impuls
vor allem nach Deutschland, besonders nach Preussen, aber
auch nach Frankreich, Spanien, Italien, England, Russland
und "Amerika" aus. Pestalozzi richtet zur Leitung des
Instituts eine Kommission ein, der neben Pestalozzi noch
vier weitere Mitarbeiter angehören. Jedes Unterrichtsfach
erhält einen von der Kommission gewählten Oberaufseher.
Pestalozzis Institut schreibt Verluste vor allem wegen
einer Druckerei
Das Institut erlebt bis 1809 eine Blütezeit mit 165 Buben,
31 Lehrern und Unterlehrern, 32 Seminaristen und 10
Mitgliedern der Familie Pestalozzi mit ihren
Hausangestellten, insgesamt also knapp 250 Personen.
Gleich neben dem Schloss ist gleichzeitig ein
Töchterinstitut angeschlossen, nach dem Prinzip der
geschlechtergetrennten Erziehung und Schule. Pestalozzi ist
aber in kapitalistischer Hinsicht weiterhin nicht lernfähig:
Das Institut arbeitet ohne Haushaltsplan und ohne geordnete
Buchführung. Pestalozzi verlangt für den Unterricht zu wenig
und fast einen Drittel der Schüler dürfen gratis teilnehmen.
Die Lehrer arbeiten nur bei Unterkunft und Verpflegung, und
die angeschlossene Buchdruckerei fährt immer hohe Verluste
ein.
Gleichzeitig versucht Pestalozzi, die Armenanstalt auf dem
Neuhof wieder zu aktivieren, bekommt aber von der Regierung
1807 keine Unterstützung.
[Wenn Pestalozzi ein Diplom in Buchhaltung hätte vorweisen
können, hätte die Regierung vielleicht anders
entschieden...]
Die Unterrichtsgestaltung: 60 Stunden Schule pro Woche
- Experimente
Gruppenarbeit und Gruppenunterricht herrschen vor. Schüler
unterrichten ihre Mitschüler. Die Unterrichtszeit beträgt
etwas das Dreifache der heute üblichen Unterrichtszeiten in
Deutschland und der Schweiz, ca. 60 volle Stunden pro Woche.
Fächer sind Mathematik (Arithmetik und Algebra),
Formenlehre, Zeichnen, Geographie, Geschichte, deutsche und
französische Sprache, Religionslehre, Naturkunde (Chemie,
Physik, Zoologie, Botanik), Latein, Gymnastik, Gesang,
Buchhaltung und Briefe schreiben. Der Stundenplan ist aber
nicht immer gleich, denn Pestalozzis Institut versteht sich
als eine Versuchsschule. Zu gewissen Zeiten werden den
Kindern täglich eine oder mehrere Stunden zum individuellen
Lernen eingeräumt.
Die Voraussetzungen bei den Zöglingen sind dabei sehr
unterschiedlich von Hochbegabung, Normalbegabung, bis zu
Minderbegabung, Verhaltensgestörte und Schwererziehbare. Das
Mindestalter der Schüler ist 7 Jahre. Schüler über 11 Jahre
werden nur noch ausnahmsweise aufgenommen. Mit 15 Jahren
erfolgt die Entlassung oder die Beschäftigung als
Seminarist.
Der Unterricht findet oft im Freien statt zur Beobachtung,
Beschreibung und zur Kopie von Pflanzen, Landschaftsformen,
Tieren oder Gesteinen. Auch Hand- und Gartenarbeit hat für
Pestalozzi grossen Wert. Der Umgang mit Säge, Hammer und
Hobel bis zur Drehbank wird systematisch beigebracht. Die
Schüler helfen im Haushalt, in der Buchdruckerei und
Buchbinderei des Instituts, arbeiten zeitweise in den
Werkstätten der Schreiner, Mechaniker, Uhrmacher und
Drechsler von Yverdon, und sie halten Tiere (Kaninchen) und
bestellen ihre eigenen Gartenbeete.
Zusammenarbeit mit den Eltern - wochenlange
Schülerwanderungen - Sport und Spiel
Pestalozzi richtet eine intensive Zusammenarbeit mit den
Eltern ein und fordert diese sogar auf, Kritik offen
auszusprechen. Täglich können Besucher in den Schulzimmern
Einblick erhalten. Die Klassenlehrer sind verpflichtet, die
Eltern jeweils über die Fortschritte des Kindes zu
orientieren. Noten und Zeugnisse gibt es nicht. Pestalozzi
will nicht Kinder miteinander vergleichen, sondern Kräfte
und Anlagen im Kind ohne Leistungsmessung fördern.
Ferien werden in Form von wochenlangen Schülerwanderungen
durchlebt, in die Alpen und ins umliegende Ausland, mit
einer Vorbereitung durch die Lektüre von Ortsbeschreibungen,
Reisebeschreibungen, Landkartenstudium, auf der Wanderung
dann mit direkter Anschauung als Bestandteil des Naturkunde-
und Geographieunterrichts.
Sport und Spiel ist im Institut Alltag, mit Schwimmen im
See, im Winter mit dem Bau von Schneeburgen und
Schlittschuhlauf.
Das Prinzip der Grossfamilie - Pestalozzi bleibt ohne
Führungsqualitäten - Streit der Lehrer unter sich
Es gilt das Zusammenleben einer Grossfamilie. Oberlehrer wie
Unterlehrer (16-20-jährige Seminaristen) geniessen
weitgehende Freiheiten wie auch die Schüler, ohne feste
Vorschriften oder Verbote. Entscheidungen sind individuell
von Fall zu Fall zu fällen. Die Buben laufen im Sommer
barfuss und ohne Hut (wie sonst immer Pflicht). Die
natürliche Bewegung sollte nicht gehemmt werden. Ehrgeiz,
Demütigung, Zorn, Misstrauen und Körperstrafe sind verpönt.
Die Lehrer können nur ihre Autorität, Ausstrahlung und
Überzeugungskraft einsetzen, leben, essen und schlafen im
selben Raum wie die Buben.
Pestalozzi sieht sich selbst als Vater und geistiger
Impulsgeber, lässt sich auch "Vater Pestalozzi" nennen, ist
schriftstellerisch beschäftigt und überwacht die
Lehrerarbeit, lässt sich Schülerberichte geben, empfängt die
Besucher und verfasst die täglichen Mahnworte an die
Grossfamilie, hält an Feiertagen grosse Reden etc.
Pestalozzi kann sich aber von seinen Widersprüchen weiterhin
nicht befreien. Er ist weiterhin keine Führerpersönlichkeit.
Über 15 der insgesamt 20 Jahre in Yverdon (Iferten) sind
durch Streit unter den Lehrern vergiftet, z.T. publizistisch
und sogar juristisch ausgetragene Auseinandersetzungen. Der
Ruf des Instituts leidet und der Ruin ist absehbar.
Einer der Gründe ist eindeutig in Pestalozzi mangelnden
Organisations- und Führungsqualitäten zu suchen. So schreibt
beispielsweise
Karl Justus
Blochmann, der von 1809-1816 Lehrer in Yverdon war:
"So oft, wenn ich den
Unvergesslichen [Pestalozzi] anschaute, als ich ihm noch
nahe stand, erschien er mir wie ein gross gewordenes Kind
mit aller Herrlichkeit der kindlichen Natur, aber auch mit
den Schwächen und Unvollkommenheiten derselben. Die
Reinheit und Unschuld, der Glaube und die Liebe, die Milde
und Hingebung des Kindes schmückten und adelten seine
Seele bis ins Greisenalter, aber die Ruhe und
Besonnenheit, die Umsicht und Vorsicht, die klare
Herrschaft über Zustände und Personen, die den Mann
zieren, mangelten ihm in hohem Grade. [...] Er besass
trotz seiner grossen, die ganze Menschheit umfassenden
Ideale nicht Fähigkeit und Geschick, auch nur die kleinste
Dorfschule zu regieren."
Beispiel der Auseinandersetzungen: Niederer verfälscht
Pestalozzis Lenzburger Rede von 1809
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Johannes Niederer (1779-1843)
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1809 wird die "
Gesellschaft
der Schweizerischen Erziehungs- freunde" gegründet
und Pestalozzi zu deren ersten Präsidenten gewählt.
Anlässlich der Eröffnungsveranstaltung am 30. Aug. 1809 hält
Pestalozzi eine grosse Rede, die sog.
Lenzburger Rede "
Über die Idee der
Elementarbildung" (Kritische Gesamtausgabe PSW 22,
S. 1-324). Pestalozzis Mitarbeiter
Johannes Niederer
ergänzt die Rede durch viele eigene Gedankengänge und gibt
sie so in Druck. Dabei wird Pestalozzis bildhafte und
leidenschaftliche Diktion immer wieder durch eine recht
überheblich wirkende Philosophensprache unterbrochen, die
Niederers Bemühen verrät, Pestalozzis erfahrungsmässige
Gedankengänge in das Gedankensystem von
Schelling hineinzupressen.
Der Streit um die Nachfolge von Pestalozzi 1810: Die
Lehrer Schmid und Niederer - Reformen von Schmid bewirken
Feindschaft der Lehrer - Abgang von 16 Lehrern, Abgang von
Niederer - Kampf Niederers gegen Schmid - Schmid geht nach
Paris
Die Lehrer streiten u.a. um die Nachfolge nach Pestalozzis
Abgang, vor allem Joseph Schmid (1785-1851) und Johannes
Niederer (1779-1843):
-- Joseph Schmid,
Bauernsohn aus Vorarlberg,
Pestalozzi-Schüler, dann hervorragender Mathematiklehrer
am Institut, Einzelgänger, zur Herrschsucht neigend,
rücksichtslos, bei anderen Lehrern unbeliebt, aber mit
Sinn für Gerechtigkeit und mit klarem Blick für die
Realität, mit der Forderung der Gewissenhaftigkeit.
-- Johannes Niederer,
herrschsüchtig, mit Hochschulausbildung als Theologe und
dann bei Pestalozzi beschäftigt, in der zeitgenössischen
Philosophiediskussion tätig, mit dem Ehrgeiz, die
Pestalozzi-Erziehung mit der idealistischen Philosophie in
Einklang zu bringen; in Yverdon wird er Sprecher,
Instituts-Philosoph und Leiter der Angelegenheiten gegen
aussen; er eröffnet eine institutseigene Druckerei, führt
mit Pestalozzi-Gegnern einen literarischen Kampf, und hat
kaum noch Zeit für den Unterricht selbst; er gestaltet
z.T. Pestalozzi-Bücher entscheidend mit und fühlt sich
deswegen anderen Lehrern überlegen.
1810 nach einer grossen Auseinandersetzung in der
Lehrerversammlung verlässt Schmid mit vier anderen Lehrern
das Pestalozzi-Institut, um in österreichischen Gebieten das
Schulwesen zu reorganisieren. Der Ideologe Niederer aber ist
zur Führung des Pestalozzi-Institus unfähig und lässt Schmid
1814 anlässlich der Hochzeit zwischen Niederer und der
Leiterin des Töchterinstituts zurückkehren. Pestalozzi
schenkt Niederer zur Hochzeit das Töchterinstitut, scheinbar
in der Annahme, dass Niederer sich dann auch selber sein
Gehalt erarbeiten müsse. Ab 1815 ist Schmid wieder fest in
Yverdon und fängt gleich an zu reformieren: Stop des
literarischen Kriegs, Schliessung der Hausdruckerei, strenge
Buchhaltung, Entlassung fast der Hälfte der Lehrer,
grösseres Arbeitspensum für die verbleibenden Lehrer. Diese
Reformen sind ein bisschen zu viel aufs mal und bewirken
wiederum eine Feindschaft fast aller Lehrpersonen.
Nach dem
Tod von
Pestalozzis Frau Anna bricht der Streit zwischen
den Lehrern offen aus, und Pestalozzi bleibt nur die
Verzweiflung. Beschwörungen, der guten Sache zu dienen,
nützen nichts. 1816 verlassen 16 Lehrer das Institut.
Niederer gestaltet
seinen Abgang 1817 als Pfarrer von der Kanzel der
Schlosskirche aus, unterbricht die Predigt, lässt seine
Vorwürfe los und sagt sich so öffentlich von ihm los.
Niederers Abgang zieht sich aber noch lange hin mit einem
Kampf gegen Pestalozzi um finanzielle Ansprüche wegen dem
"geschenkten" Töchterinstitut, im Hintergedanken aber gegen
den Reformer Schmid. Niederer zieht trotz Friedensappellen
Pestalozzis gegen Pestalozzi vor Gericht, und als das
Gericht Pestalozzi weitgehend recht gibt, hört Niederer
nicht auf, bis
Schmid unter
fadenscheinigen Vorwürfen aus dem
Kanton Waadt und später auch aus dem
Neuhof behördlich
ausgewiesen wird. Schmid versucht darauf [nach dem Tod
Pestalozzis], in
Paris ein
Pestalozzi-Institut zu verwirklichen.
Verlagsvertrag mit Cotta 1817 - Projekt der
Wiedereröffnung des Neuhofs 1818
Im gleichen Jahr 1817 kann Pestalozzi mit dem
Cotta-Verlag einen
Vertrag über die Herausgabe seiner sämtlichen Schriften
abschliessen. Endlich sollten Pestalozzi für pädagogische
Projekte grössere, selbst erarbeitete Geldsummen zur
Verfügung stehen. In der Rede zu seinem 72. Geburtstag am
12. Januar 1818 kündet er die Wiedereröffnung der
Armenanstalt auf dem Neuhof in Birr an und verspricht, die
zu erwartenden 50'000 Franken für die Förderung seiner
Unterrichts- und Erziehungsmethode, für die Lehrerbildung,
für die Errichtung von Musterschulen und für die permanente
Weiterbearbeitung des "
Mutter-
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Yverdon-Clendy: Armenzentrum
Pestalozzi heute
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oder Wohnstubenbuchs"
zu verwenden. Pestalozzi erweist sich dabei weiter als
schlechter Rechner: Er verteilt das zu erwartende Geld
bereits im Voraus.
Mitarbeiter Joseph Schmid wendet sich gegen den Neuhof.
Stattdessen wird in
Clendy
bei Yverdon [heute Ortsteil von Yverdon] eine
Armenanstalt eröffnet, in Verbindung mit einer
Industrieschule und einem Lehrerseminar.
Nach bereits einem Jahr erfolgt [im Jahr 1819?] die
Vereinigung mit dem Institut in Yverdon. Das bereits
verteilte Geld kommt nicht in der erhofften Höhe herein.
Erst 1821 erhält Pestalozzi die ersten 10'000 Franken. 1824
muss Pestalozzi seine Stiftung öffentlich als gescheitert
erklären und widerrufen (Kritische Gesamtausgabe, PSW 27,
S.111), und 1825 wird das Pestalozzi-Institut samt der
Armenanstalt in Clendy aufgelöst.
Hauptsächliche Pestalozzi-Werke der Zeit von
Yverdon 1804-1825
Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier,
Gerhard Kuhlemann: Yverdon 1804-1825;
http://www.heinrich-pestalozzi.info
Der literarische Ertrag der Yverdoner Zeit ist trotz der
fast ununterbrochenen Auseinandersetzungen ausserordentlich
umfangreich, zum Beispiel "
Ansichten
und Erfahrungen" und "
An die Unschuld". Von den weiteren Schriften
dieser Jahre sind vor allem die 3. Fassung von "
Lienhard und Gertrud" zu
nennen, die Schriften "
Geist
und Herz in der Methode" (1805) und "
Über die Idee der
Elementarbildung" (Lenzburger Rede). Aus den
zahlreichen in Yverdon gehaltenen Reden und Ansprachen ragt
vor allem Pestalozzis
Geburtstagsrede
von
1818 heraus.
Pestalozzi: "Geist und Herz in der Methode" 1805
In "
Geist und Herz in der
Methode" (Kritische Gesamtausgabe, PSW 18, S. 1-52)
wendet sich Pestalozzi zuerst dagegen, sein Institut nur
aufgrund seiner Unterrichtserfolge zu beurteilen. Wichtiger
sei das nicht direkt Messbare: Frohsinn, kindliche
Anhänglichkeit und Vertrauen in die Lehrer, Bildung zum
Gehorsam und zur Selbstüberwindung. Er betont, dass Bildung
kein von aussen bewirktes Einpflanzen von Kenntnissen sei,
sondern auf innerer Erregung von Anlagen und Kräften beruhe.
Allerdings hält er die Kräfte von Kopf und Herz für das
Menschsein nicht von gleichem Wert, denn intellektuelle
Bildung an sich sei nicht geeignet, jene inneren Kräfte zu
wecken, die den Menschen zum Gefühl seiner inneren Würde und
zum Erkennen des in seiner inneren Natur liegenden
göttlichen Wesens führt. Nach Pestalozzi entfalten sich
diese nicht durch die Kraft des Intellekts im Denken,
sondern durch die Kraft des Herzens im Lieben. Pestalozzi
sieht den Vorzug seiner Erziehungsweise, die er anfänglich
schlicht als "
Methode",
später als "
Idee der
Elementarbildung" bezeichnet, gerade darin, dass
Denken und Lieben miteinander verbunden werden:
"Sie [die Methode] lehrt das
Kind in allem Denken lieben und in aller Liebe denken."
(Kritische Gesamtausgabe, PSW 18, S. 37).
[Die Vorbilder für die Kinder, die zerstrittenen Lehrer,
liefern aber genau das Gegenteil...]
Pestalozzi: "Ansichten und Erfahrungen" 1806
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Pestalozzi-Maske
aus Terrakotta 1809; Lebend- maske von
1809 von J. M. Christen im Auftrag des
Kronprinzen Ludwig von Bayern, gemäss
Skelettfunden von 1984 authentisch.
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Pestalozzi arbeitete in Yverdon gleichzeitig an mehreren
Schriften. Vieles wurde überarbeitet, von den Mitarbeitern
abgeschrieben und überarbeitet, mit anderen Schriften
vereinigt, für Teildrucke oder Gesamtdrucke vorbereitet und
dann doch nicht oder nur zum Teil gedruckt. Dieses Schicksal
erfuhr in ganz besonderer Weise die Schrift "
Ansichten, Erfahrungen und
Mittel zur Beförderung einer der Menschennatur
angemessenen Erziehungsweise" (kurz: "
Ansichten und Erfahrungen")
von 1806. Zu Pestalozzis Lebzeiten gelangten nur Auszüge
daraus zum Druck. Der verfügbare Text des Werks stützt sich
auf 20 Handschriften und ist in seiner veröffentlichten
Fassung auch ein Werk
Emanuel
Dejungs, des langjährigen Herausgebers der
Kritischen Gesamtausgabe.
Das Werk beginnt - wie meistens - mit einem Lebensrückblick,
mit der Beschreibung Pestalozzis pädagogischer Laufbahn, mit
der Darstellung der Entstehung und der Grundgedanken seiner
Methode einer naturgemässen Erziehung, mit der häuslichen
Erziehung als sittlich-religiöse Grundlage. Entsprechend
formuliert er die Ansprüche, die an einen Erziehungsversuch
gestellt werden müssen und nennt Kriterien zur Beurteilung.
Wesentlich ist dabei die Modifizierung der Methode je nach
den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Etablierung der
neuen Erziehung soll mit der Erneuerung des Erziehungswesens
und mit Versuchsschulen vollzogen werden. Der Einfluss
einzelner Personen wie Schulmeistern und einflussreichen
Politikern muss dabei erkannt werden.
Pestalozzi: Rede zum 72. Geburtstag 1818 mit
Erziehungsleitlinien
Pestalozzis Rede aus Anlass seines 72. Geburtstages am 12.
Januar 1818 (Kritische Gesamtausgabe PSW 25, S. 261-364) ist
eines seiner aussagekräftigsten Werke, im Erstdruck 173
Seiten. Sie ist darum besonders interessant, weil sie ohne
Niederers Mitwirkung zustande gekommen ist. Pestalozzi
erscheint in diesem Werk in seiner alten
Leidenschaftlichkeit, Originalität und philosophischen
Ungebundenheit. Zur Verdeutlichung sozialer, geistiger und
pädagogischer Gesetzmässigkeiten und Zusammenhänge wählt er
oft Bilder aus dem organischen Lebensbereich.
Am eindrücklichsten ist der Vergleich vom Heranreifen des
Menschen mit dem Wachstum eines Baumes am Anfang der Rede:
"Das Bild der
Erziehung, das innere, heilige Wesen einer besseren
Erziehung steht im Bild eines Baums, der an den
Wasserbächen gepflanzt ist, vor meinen Augen. Siehe, was
ist er? Woraus entspringt er? Woher kommt er mit seinen
Wurzeln, mit seinem Stamm, mit seinen Ästen, mit seinen
Zweigen, mit seinen Früchten? Siehe, du legst einen
kleinen Kern in die Erde. In ihm ist des Baumes Geist. In
ihm ist des Baumes Wesen. Er ist des Baumes Samen."
(Kritische Gesamtausgabe, PSW 25, S. 265).
Pestalozzi vergleicht den konzentrierten Samen und seine
Verwandlung in einen Baum mit dem Geist des Menschen im
Baby, der sich bis zum Geist in der vollmenschlichen
Existenz entwickelt, d.h. zu einem von Glauben und Liebe
getragenen Leben. Die Umgebung ist für die Entwicklung des
Baumes wie auch für die Entwicklung des Menschen
verantwortlich. Dabei ist der menschliche Organismus zwar
tierisch, aber doch kein Tier, "er ist der Organismus einer
sinnlichen Hülle, in der ein göttliches Wesen ruht und
lebt." (Kritische Gesamtausgabe, PSW 25, S. 268)
Dabei können die Menschen entscheiden, welchen Einflüssen,
welchem "Boden" sie sich aussetzen. Zum Thema Baum und
Wachstum existiert eines der wenigen Gedichte Pestalozzis:
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Jung geschützt,
jung gestützt,
wachst er grad
vom Boden auf
dem Himel an.
Jung gedrückt,
jung gebükt,
wachst er krum
vom Himel ab
zum Boden hin. |
Jung gezogen,
alt verbogen,
ist so wahr
als jung gebogen,
wohl gezogen.
Jung verzogen,
alt verkrüppelt,
ist mehr wahr
als jung gebogen,
wohl gezogen. |
Jung geschützt,
jung gestützt,
wachst er grad
vom Boden auf
zum Himel an. |
Jung gedrükt,
jung gebükt,
wachst er krum
vom Himel ab
zum Boden hin. |
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Faksimile des Pestalozzi-Gedichts
"Der Baum": PSW 23, S. 327-329 |
Im weiteren Verlauf seiner Rede berührt
Pestalozzi die Verbesserung der Erziehung in den
einzelnen Familien mit Hilfe eines Erziehungsbuchs
als Volksbuch. Die elementaren Lebenselemente
sollen von den Eltern beigebracht werden.
Pestalozzi hält ein solches Volksbuch für derart
wichtig, dass er sogar einen Teil seiner Stiftung
für die immerwährende Bearbeitung dieses Projekts
aussetzt. Als Vorarbeit für ein solches Werk
können die 1818/19 geschriebenen 34 "Briefe an Greaves
über die Entwicklung des kindlichen
Geisteslebens" angesehen werden, die
nicht im Original, sondern nur in einer englischen
Übersetzung erhalten geblieben sind.
Emanuel Dejungs
wird später der langjährige Herausgebers der
Kritischen Gesamtausgabe. |
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Pestalozzi 1818: Lithographie
nach G.A. Hippius
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Letzte Lebensjahre auf dem Neuhof: 1825-1827:
Autobiographie, Erziehungslehre - verleumderisches Buch
von Niederer
Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier,
Gerhard Kuhlemann: Letzte Lebensjahre auf dem Neuhof
1825-1827; http://www.heinrich-pestalozzi.info
Nach der Ausweisung von Schmid aus dem Kanton Waadt verlässt
Pestalozzi mit ihm und den letzten vier Zöglingen im März
1825 das Institut und zieht sich endgültig auf den Neuhof
zurück. Den Traum, seine ehemalige Armenanstalt wieder zu
beleben, hatte er immer noch nicht begraben. Gemeinsam mit
seinem Enkel Gottlieb baut Pestalozzi einen deutlich
herrschaftlicheren "neuen" Neuhof.
Mit fast 80 Jahren legt
Pestalozzi noch einmal selber Hand an.
(aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann:
Neuhofjahre: 1769-1798;
http://www.heinrich-pestalozzi.info)
Pestalozzi: "Schwanengesang" 1826: Autobiographie und
Erziehungslehre
Auf dem Neuhof schrieb Pestalozzi sein letztes grosses Werk,
den "
Schwanengesang".
Das Buch besteht im wesentlichen aus zwei Teilen: einer
Autobiographie und einer umfassenden Darstellung seiner
Erziehungslehre. Der Cotta-Verlag will die Schilderung der
Auseinandersetzungen in Yverdon aber nicht veröffentlichen,
so dass die Auseinandersetzungen in Yverdon 1826 bei
Fleischer in Leipzig unter dem Titel "
Meine Lebensschicksale als
Vorsteher meiner Erziehungsinstitute in Burgdorf und
Iferten" (Kritische Gesamtausgabe, PSW 27, S.
215-344) herausgegeben werden.
Darin vergleicht er die Realität in Yverdon mit seinen
Ideen, und er kommt zum Schluss, dass Yverdon nicht das war,
was er wollte. Zwar richtet er die Kritik zuerst einmal
gegen sich selber, aber dabei entgeht ihm offensichtlich,
dass er damit nicht nur sich selbst und sein eigenes Werk
beurteilt und verurteilt, sondern gleichzeitig auch die
Leistungen seiner zahlreichen Mitarbeiter. Die Arbeit
Schmids wird günstiger beurteilt als diejenige Niederers.
Zum Beweis für seinen ungebrochenen Willen zur Versöhnung
druckt Pestalozzi am Schluss seiner Lebensschicksale jenen
Brief ab, den er am 1. Februar 1823 Niederer persönlich
überbracht hatte, und schliesst das Werk mit dem Satz:
"Ich bin und bleibe heute
noch in der nämlichen Gesinnung, in der ich war, als ich
diesen Brief schrieb." (Kritische Gesamtausgabe, PSW 27,
S. 344).
Die Fertigstellung des neuen Gebäudes auf dem Neuhof erlebt
Pestalozzi nicht mehr.
Pestalozzi stirbt inmitten
armer Kinder in seiner Sehnsucht, ein guter Vater zu sein.
(aus: Arthur Brühlmeier, Gerhard Kuhlemann:
Neuhofjahre: 1769-1798;
http://www.heinrich-pestalozzi.info)
Niederer selbst bleibt unversöhnlich und gibt bei seinem 25
Jahre alten Mitarbeiter
Eduard
Biber (1801-1874) eine verleumderische Schrift in
Druckauftrag: "
Beiträge zur
Biographie Heinrich Pestalozzi's und zur Betrachtung
seiner neuesten Schrift: 'Meine Lebensschicksale u.s.f.'
nach dessen eigenen Briefen und Schriften betrachtet, und
mit anderen Urkunden belegt" (St. Gallen, Januar
1827). Pestalozzi ist nicht mehr imstande, darauf öffentlich
zu antworten und merkt am Ende in seinen Fieberzuständen
nicht einmal mehr, dass seine Feder keine Tinte mehr hat.
Drei Wochen nach der Lektüre der verleumderischen Schrift
stirbt Pestalozzi am 17. Februar 1827 in
Brugg und wird am 19.
Februar in
Birr an
der Seitenmauer des alten Schulhauses begraben.
Die Geschehnisse um Pestalozzis Grab
Zusammenfassung aus: Arthur Brühlmeier,
Gerhard Kuhlemann: Letzte Lebensjahre auf dem Neuhof
1825-1827; http://www.heinrich-pestalozzi.info
Ein Grabdenkmal 1846
1846 errichtet der Kanton Aargau das noch heute bestehende
Grabdenkmal mit der Grabinschrift von
Augustin Keller:
Retter der Armen im Neuhof,
Prediger des Volkes in Lienhard und Gertrud,
Zu Stans Vater der Waisen,
Zu Burgdorf und Münchenbuchsee
Gründer der neuen Volksschule,
Zu Iferten Erzieher der Menschheit,
Mensch, Christ, Bürger,
Alles für Andere, für sich Nichts.
Segen seinem Namen!
Fund der Gebeine 1984 und medizinische Untersuchungen:
Pestalozzis Krankheiten
1984 wird bei Bauarbeiten an Pestalozzis Grabdenkmal
zufällig die Gruft gefunden, in die Pestalozzis sterbliche
Überreste 1846 umgebettet worden waren, und man findet darin
vollständig und gut erhalten seine Gebeine. Die
anthropologische und pathologische Untersuchung ergeben
einige wichtige Aufschlüsse:
-- Pestalozzi war in seinen
jungen Mannesjahren wohl knapp 170 cm gross, bei seinem
Tod noch ca. 165 cm
-- die bekannte Lebendmaske Pestalozzis von 1809 muss als
echt betrachtet werden, die zahlreichen
Pestalozziportraits dagegen als recht freie künstlerische
Gestaltungen. Am ehesten entspricht in den
Gesichtsproportionen die Zeichnung von Hippius dem
Original
-- in seinen letzten Lebensjahren war Pestalozzi zahnlos
und hatte arthrotische Veränderungen vor allem an den
Endgelenken der rechten Hand aber auch im
Halswirbelbereich, nicht ungewöhnlich für einen Mann
seines Alters, der zeitlebens viel geschrieben hatte
-- eine unbehandelte Fraktur des linken Handgelenks konnte
festgestellt werden, und der überlieferte Eingriff einer
Aufbohrung der Knochenwand hinter dem rechten Ohr
(Trepanation) zum Abfluss des Eiters einer
Mittelohrentzündung hat tatsächlich stattgefunden
-- die deutlichen Veränderungen im Schriftbild des greisen
Pestalozzi werden als Folge der arthrotischen
Veränderungen seiner rechten Hand aber auch seines im
Alter deutlich nachlassenden Sehvermögens beschrieben. Ein
sicherer und ausdauernder Läufer muss Pestalozzi
allerdings bis zu seinem Tod gewesen sein.
Ausführliche Dokumentation der Untersuchungen in:
Etter, Hansueli F.:
Johann Heinrich Pestalozzi. Befunde und Folgerungen auf
Grund einer Untersuchung an seinen Gebeinen. Zürich 1984.
Über seine Gebrechen berichtet Pestalozzi in seinen Werken
und Briefen aber kaum etwas.