aus: Urs Rauber; In:
Schweizerischer Beobachter 18/98, S.12-15
Der Artikel
<Die Schweiz war nicht die Erfinderin des
Judenstempels. Doch sie bahnte - wie andere Staaten auch -
mit ihrer hartherzigen Flüchtlingspolitik den Weg dazu.
Der Beobachter muss seine damalige Kritik am schweizer
Polizeichef Heinrich
Rothmund korrigieren.
Es war eine politische Bombe, die der Beobachter am 31.
März 1954 zündete. Er enthüllte, dass die Einführung des
"Judenstempels" durch die Nazis auf Initiative von
Heinrich Rothmund erfolgt sei. Rothmund war seit 1929 Chef
der Polizeiabteilung im Eidgenössischen Justiz- und
Polizeidepartement - und zum Zeitpunkt der Publikation
immer noch in Amt und Würden. Der öffentliche Druck, den
die Publikation erzeugte, führte zum Rücktritt des
Polizeichefs im Dezember 1954. Und die schäbige
Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg wurde
erstmals Thema einer breiteren Diskussion.
Jetzt wird diese Diskussion neu aufgerollt. Was gestern
eindeutig schien, erweist sich heute als nur noch bedingt
richtig. So etwa die Behauptung, die Schweiz -
beziehungsweise deren Polizeichef Heinrich Rothmund -
habe den Judenstempel erfunden. Die NZZ und die
rechtskonservative "Schweizerzeit" haben bereits vor
Wochen darüber eine Debatte geführt.
Im März 1954 berichtet der Beobachter von einer
"unglaublichen Affäre". Er erinnerte an den Judenstern,
der die Verhaftung und die Deportation der "minderwertigen
andersrassigen Menschen" in Deutschland erleichtert
und direkt "zu den Gaskammern von Auschwitz" geführt habe:
"Dem Schweizer Rothmund kommt das schreckliche Verdienst
zu, den Nationalsozialisten den Weg zu dieser amtlichen
Kennzeichnung der Juden gebahnt zu haben." So schrieb der
Beobachter unter Berufung auf neu publizierte Akten der
Alliierten zur deutschen Aussenpolitik.
Am 30. April 1954 doppelte der Beobachter nach: "Rothmund
war es, der die Kennzeichnung der Pässe deutscher Juden
vorgeschlagen hat." Vier Jahre später, am 28. Februar
1958, schlug die Redaktion einen noch schärferen Ton an:
"Im Jahr 1938 erklärte sich die Naziregierung auf
Veranlassung der schweizer Behörden mit dem
niederträchtigen Kennzeichnen der Pässe jüdischer
Staatsangehöriger durch das entwürdigende "J"-Zeichen
einverstanden." Die kritische Presse, Linksparteien und
jüdische Organisationen protestierten heftig. Und der
Bundesrat beauftragte den Basler Rechtsprofessor Carl Ludwig, einen
Bericht zur schweizer Flüchtlingspolitik im zweiten
Weltkrieg zu verfassen.
Die Folgen einer Fehldeutung
Das böse Wort von der "Erfindung des "J"-Stempels durch
die Schweiz" war geboren und fand Eingang in die seriöse
Geschichtsschreibung. So notierte etwa Jacques Picard, heute
Mitglied der Bergier-Kommission,
in seinem Buch "Die Schweiz und die Juden" von 1995:
"Schweizerische Amtsstellen hatten im Sommer 1938 in
Berlin die Einführung der besonderen Kennzeichnung
deutscher Pässe, deren Inhaber "Nichtarier" waren,
angeregt."
Bundespräsident Kaspar
Villiger erklärte zum 50. Jahrestag des
Kriegsendes am 7. Mai 1995: "Mit der Einführung des
Judenstempels kam Deutschland einem Anliegen der Schweiz
entgegen."
Und auch US-Staatssekretär Stuart Eizenstat griff in seinem Bericht
vom Mai 1997 die Behauptung auf:
"Die Schweiz veranlasste die Nazis zum J-Stempel, der
Zehntausende von Juden daran hinderte, in die Schweiz oder
an andere potentielle Zufluchtsorte zu gelangen."
Gegenüber dem Beobachter präzisierte Historiker Picard,
dass sein Satz "eine zusammenfassende Sicht des
Ludwig-Berichts und der Diskussion der fünfziger Jahre"
wiedergebe "und nicht meiner Ansicht entspricht."
Und auch (S.12) Bundesrat Villiger legte Wert auf die
Feststellung, dass er Rothmund gar nicht erwähnt habe
(siehe Kasten Seite 15).
Dennoch: Die Behauptung, die Schweiz sei Initiantin des
"J"-Stempels gewesen und hätte bei der Durchführung der
deutschen Rassengesetzgebung eine Vorreiterrolle gespielt,
geistert in den Köpfen herum. Heute ist dieser "Mythos"
(NZZ) zu korrigieren. Das legt eine sorgfältige Lektüre
des 1957 erschienen Ludwig-Berichts und neuerer
Fachliteratur nahe.
Unbestritten ist, dass Rothmund an zentraler Stelle für
die Flüchtlingspolitik im Krieg verantwortlich war: für
eine Politik, die unter der Devise vom "vollen Boot" die
Grenzen dicht machte - vor allem im August 1942, als in
Deutschland die "Endlösung der Judenfrage" bereits
Tatsache war. Rothmund sah in den Juden einen
"Fremdkörper" und sprach sich wiederholt gegen die
"Verjudung der Schweiz" aus. Seine antisemitische
Einstellung ist hinlänglich belegt. Daneben war er
allerdings auch ein Gegner des Nationalsozialismus. Die in
Deutschland praktizierten totalitären Methoden lehnte er
ab. Dies zeigen die Quellen in den neu edierten
"Diplomatischen Dokumenten der Schweiz".
Flüchtlingsfeindliches Umfeld
Auch die hartherzige schweizer Flüchtlingspolitik muss aus
der damaligen Situation beurteilt werden. Nach der
Annexion Österreichs im März 1938 sah sich unser Land mit
einem wachsenden Zustrom von - vor alle jüdischen -
Flüchtlingen konfrontiert. Im Juli gleichen Jahres
scheiterte die internationale Flüchtlingskonferenz von Evian: Länder wie
Holland, Belgien, England begannen, ihre Grenzen zu
schliessen.
Auch die "USA" weigerten sich, mehr als die gesetzlich
vorgeschriebene Zahl von 27'000 Flüchtlingen aufzunehmen.
Die Schweiz hatte damals immerhin 10'000 bis 12'000
Verfolgten Schutz geboten. Viele in unserem Land
befürchteten eine Überfremdung und Belastung des
Arbeitsmarkts. Auch Hilfswerke und jüdische Verbände
sorgten sich wegen der wachsenden Flüchtlingsströme.
In dieser Situation forderte der Bundesrat ein Visum für
österreichische und deutsche Passbesitzer: ein fataler
Vorstoss, der den Weg zum J-Stempel bahnte. Die Konsulate
im Ausland sollten nur jenen eine Bewilligung erteilen,
die in der Schweiz Angehörige oder ein Vermögen hätten,
sowie an Weiterreisende.
Die deutsche Regierung wehrte sich gegen den von der
Schweiz verlangten Visumszwang. Denn er hätte auch nicht
auswanderungswillige "arische Personen" betroffen. Der
schweizer Gesandte in Berlin, Paul Dinichert, wollte den
deutschen Wünschen entgegenkommen und schlug am 16. Mai
vor, den Visumszwang "auf die nichtarischen deutschen
Staatsangehörigen" zu beschränken. Damit waren vor allem -
aber nicht nur - jüdische Emigranten gemeint (S.13).
Im August und September 1938 fanden Verhandlungen zwischen
Berlin und Bern statt. Angesichts des Einwanderungsdrucks
war die Schweiz jetzt entschlossen, das Visum einzuführen.
Am 22. August schlug Rothmund für alle Emigranten einen
Passvermerk vor. Nach Meinung des Historikers Alfred Cattani war
sich Rothmund bewusst, "hier auf heiklem Terrain zu
stehen" - auch aus innenpolitischen Gründen. Deshalb
fasste er seine Formulierung so, dass sie nicht nur auf
Juden, sondern auf alle deutschen Emigranten abzielte.
Als der deutsche Gesandte sondierte, ob die Schweiz nicht
auf das Visum verzichten könne, wenn Deutschland die
jüdischen Passinhaber ausdrücklich als solche bezeichne,
antwortete Rothmund, "dass die Lösung technisch möglich",
aber politisch fraglich wäre.
Rothmund gegen "J"-Stempel - [die deutsche Seite schlägt
den J-Stempel vor, die schweizer Seite akzeptiert]
Von einem J-Stempel war erstmals im Schreiben von
Dinicherts Nachfolger, Hans Fröhlicher, vom
7. September die Rede. er Vorschlag wurde von
Geheimrat Roediger vom Auswärtigen Deutschen Amt
unterbreitet. Aus Gründen der Gegenseitigkeit müsse aber
auch die Schweiz die Pässe von schweizer Juden stempeln.
Fröhlicher, der den Wünschen Berlins näher stand als
Rothmund, äusserte die Auffassung, "dass die deutsche
Regierung uns mit ihrem Vorschlag sehr weit entgegenkomme
und dass die Lösung annehmbar sei."
Rothmund meldete sofort Bedenken an:
"Eine Abmachung, wonach die schweizerischen Juden anders
behandelt werden als nichtjüdische Schweizer, scheint mir
nicht tragbar."
Zudem betreffe das Ausreiseproblem nicht nur Juden,
sondern auch Kirchenvertreter und Deutschnationale:
"Flüchtlinge, die in weit grösserem Mass den Stempel der
"politischen" auf sich tragen als die Juden."
Der deutsche Vorschlag sei abzulehnen, weil die Schweiz
riskiere, "die ganze zivilisierte Welt gegen uns zu
haben."
Aufgrund des Ludwig-Berichts steht also fest, dass
Rothmund ein Gegner des "J"-Stempels war.
Am Schluss der vertraulich geführten Verhandlungen Ende
September eröffnete der deutsche Delegierte Werner Best,
dass seine Regierung zur Durchführung der Nürnberger
Rassengesetze von 1935 zwei Massnahmen beschlossen habe
die Stempelung des "J"-Zeichens auf Inlandkarten von
Nichtariern (eine Massnahme, die mit der Emigration nichts
zu tun hatte) und die Abgabe von "J"-gestempelten
Auslandpässen an Nichtarier, die die
Übersiedlungsbewilligung eines anderen Staates besassen.
Die ursprünglich geforderte Stempelung der Pässe von
schweizer Juden liess die deutsche Regierung in der
Verordnung vom 5. Oktober 1938 wieder fallen. Bundesrat Motta und der Gesandte
Fröhlicher drangen
darauf, die Berliner Vereinbarung zu unterzeichnen. So
stimmte der Bundesrat zu - gegen die Bedenken Rothmunds.
Damit ist klar: Beim J-Stempel handelt es sich um einen
deutschen Vorstoss, der in der Tradition antijüdischer
Erlasse seit 1933 stand. Der Vorstoss war auch eine
Antwort auf das schweizer Flüchtlingsproblem. Dass unser
Land solcher Rassendiskriminierung zustimmte, war für die
jüdischen Flüchtlinge verheerend. Die inhumane, für viele
tödliche Massnahme war auch staatspolitisch falsch, denn
sie löste das Einwanderungsproblem nicht.
"Verstrickungen und Schuld" führten zum J-Stempel,
folgerte Alfred Cattani in der NZZ. Für ihn trägt der
Bundesrat die Hauptverantwortung für die schweizerische
Mitschuld. Verantwortlich waren auch die schweizer
Repräsentanten in Berlin. "Rothmund hingegen resignierte
schliesslich vor dem Willen des Bundesrats und machte sich
wider besseres Wissen zum Mitbeteiligten."> (S.15)
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