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Schweiz 1933-1945: Flüchtlingspolitik - Flüchtlinge -

"J"-Stempel  - Visas von Botschafter Lutz


Filmprotokoll von Michael Palomino (1997)

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Schweizer Fernsehen, Logo

aus:
Die Schweiz im Schatten des 3. Reiches; Diskussion mit Filmbeiträgen; SF DRS 23.7.1997

Diskussionsrunde:
-- Gerhard Riegner, ab 1934 in der Schweiz, Sekretär des jüdischen Weltkongresses in Genf JWC
-- Alfred Häsler, Aktivdienstleistender, Redakteur bei der "Tat", der "Weltwoche" und bei "Ex Libris"
-- Charlotte Weber, sie war Lagerleiterin eines Interniertenfrauenlagers auf dem Bienenberg
-- Jacques Piccard, Historiker, Mitglied der Historikerkommission, Autor des Buches "Die Schweiz und die Juden"

Diskussionsleitung: Herr Studer, Frau Marina Lichtsteiner.


Diskussion

Lichtsteiner:
Was ist heute wichtig, wenn wir diese Problematik angehen?

Piccard:
Die Lernprozesse, so dass die Schweiz offen sein kann und sich Problemen nicht verschliesst, so dass sie glaubwürdig ist.

Weber:
Wichtig: Antisemitismus ist heute noch in der Schweiz vorhanden, Fremdenfeindlichkeit ist genau dasselbe.

Häsler:
Antisemitismus gab es in der Schweiz v.a. ab 1936, und zwar definiert gegenüber den Juden als Rasse, so dass sie später nicht zu den politischen Flüchtlingen gehörten.

Riegner:
Man muss nun die Wahrheit erkennen und aus den Fehlern lernen.

Lichtsteiner:
Die Schweiz war ja das letzte Land, wo die Juden ihre Gleichberechtigung als Staatsbürger erhielten innerhalb Europas. Sehen wir uns nun einen Film an, wie sich der Antisemitismus bei den Frontisten der Schweiz äusserte.

[nicht erwähnt: Die Schweiz war innerhalb Mitteleuropas das "letzte Land", aber in den "christlichen Staaten" Spanien und Portugal warteten die Juden noch viel länger auf die Gleichberechtigung].


Film: Rassistenzentrum Zürich ab 1920-er Jahre

Zürich ist Rassistenzentrum. Schon in den 1920er Jahren kommt es in Zürich zu Massnahmen gegen Juden. Normalerweise war eine Einbürgerung nach 10 Jahren möglich. In Zürich wird die Frist für Juden auf 15 Jahre heraufgesetzt. 1926 wird Zürich zum Vorbild und die Heraufsetzung auf 15 Jahre auf Bundesebene eingeführt. Dabei beträgt die Quote der Einbürgerungen von Juden pro Jahr genau 12.

1933 kommt es nach Hitlers Wahl in Deutschland zu einer Nazi-Welle in der Schweiz, die sich in der Schweiz "Frontisten" nennen, mit der Partei "Nationale Front" mit der Zeitung "Front":
-- mit Hetze gegen die "jüdische Presse"

-- kämpft gegen jüdische Einbürgerungen
-- kämpft gegen "jüdisch-marxistische Vergiftung".

Schon vorher gab es die Hetzschrift "Eiserner Besen" mit allen Variationen der "Judengegnerei".

Ab 1933 hetzen die Frontisten in Zürich unter Leitung von Schäppi gegen Juden. Die Juden werden zu Schweizern zweiter Klasse.


Diskussion

Lichtsteiner:
Beim Vergleich der Zahlen komme ich auf einen jüdischen Bestand in der schweizer Bevölkerung von damals 5 Promille. Wie ist denn diese Judenfeindlichkeit überhaupt zu erklären?

Piccard:
Was die Einbürgerung betrifft, ist es politisch zu sehen, nämlich mit der Bruchstelle vor und nach dem 1.Weltkrieg. Man hatte plötzlich das Gefühl, die Schweiz werde überfremdet. Daraus heraus ergab sich eine Feindschaft gegen das schwächste Glied und das waren die Juden.

Lichtsteiner:
Gegen schweizer Juden oder gegen alle Juden?

Riegner:
Man muss sagen, die Emanzipation der Juden wurde von der schweizer Regierung nie gefördert. Es war ein so genannter prophylaktischer Antisemitismus. Man liess einfach nie zentrale Stellen durch Juden besetzen, denn Juden wurden immer als Fremdkörper empfunden.

Häsler:
Beispiele dieser Judenfeindlichkeit sind z.B. Hans von Wyl, antisemitische Studentenbünde oder auch antisemitische Strömungen in der Kirche. Die Kirche sagte, es sei Strafe Gottes dafür, dass "Jesus" nicht ihr Messias sei. Beispiel: Interlaken ab 1936, wo ich wohnte, als ich merken musste, dass die Geschwister Geismar von den Frontisten angegriffen wurden, nicht, weil sie Frauen oder weil sie jung waren, sondern: weil sie Juden waren.

Lichtsteiner:
War denn diese Judenfeindlichkeit schon am Anfang des Jahrhunderts da?

Piccard:
Einen gewissen Antisemitismus gab es immer, aber am Ende des 19.Jh. etablierte sich ein neuer Antisemitismus ohne theologische Begründung, ein so genannter biologischer Antisemitismus. Antijüdische Tradition beginnt v.a. ab 1349 mit Beginn der Pest, etabliert sich in der Schweiz dann in den Ständen: Man solle den Judenschwarm und die Heiden von der Schweiz abhalten.

Riegner:
Man muss sich vorstellen, dass 1936 das Bundesgericht Entscheide fällte, die besagten: Man darf Meinungen vertreten, die dafür eintreten für die Abschaffung der Gleichberechtigung und Abschaffung der Emanzipation. Aber es war - wie gesagt - auch ein prophylaktischer Antisemitismus vorhanden: Man lässt sie einfach nicht hinein, und das hat Wirkung auf die Mentalität der Menschen. Man schloss die Grenzen und erklärte 1933, die Schweiz sei nur ein Durchgangsland.

Weber:
Die Juden durften keine leitenden Stellen besetzen. Auch ich hätte die Lagerleitung nie bekommen, wenn ich Jüdin gewesen wäre.

Piccard:

Der Antisemitismus der 1930er Jahre war unterschiedlich. Propagiert wurde er nur in den Fronten. IN den Parteien ergab sich eher eine tabuisierte Judenfeindschaft. Man wollte Deutschland auch keinen Erfolg der Propaganda in die Hände spielen. Die linken Parteien haben den Antisemitismus sehr verlässlich bekämpft, auch ein paar bürgerliche Rebellen, ein paar Rebellen in kirchlichen Kreisen sowie in Frauenorganisationen.

Riegner:
Was heisst denn bekämpfen: Es wurde schlussendlich eine Unterscheidung gemacht zwischen politischen und rassisch-religiösen Flüchtlingen, und diese politische Entscheidung war eine willkürliche Entscheidung, wofür es keine Präzedenzfälle gibt. Es ist eine völlige Absurdität.

Häsler:
Es gab auch Antisemitismus in vielen kulturellen Vereinigungen, z.B. im Schriftstellerverein wurde die Empfehlung an den Bundesrat gegeben, welche Leute er als neue Bürger aufnehmen soll und welche nicht.

Piccard:
Dasselbe geschah im "Vaterländischen Verein" und anderen.


Film: Der J-Stempel ab 1938 und seine Auswirkungen

Mit dem Anschluss Österreichs setzte 1938 eine härtere Verfolgung der Juden in Deutschland und Österreich ein. Bundesrat Motta befürchtet eine neue jüdische Flüchtlingswelle aus Österreich. Um Juden an der Grenze besser erkennen zu können, schlägt die schweizer Regierung dem NS-Regime in Berlin vor, einen J-Stempel in Pässen von Juden einzuführen. Deutschland stimmt zu, woraufhin der zuständige Vorsteher der Fremdenpolizei Rothmund einen Musterpass verlangt, ob sich der Stempel auch nicht entfernen lässt.


Diskussion

Lichtsteiner:
Und nun sehen wir, was Bundesrat Villiger vor zwei Jahren zu diesem Thema gesagt hat, als er sich für die Rückweisungen an der schweizer Grenze aufgrund des J-Stempels entschuldigte.

Film: Villiger:
Villiger gibt an, Deutschland habe entschieden, den J-Stempel einzuführen, und aufgrund dessen seien die Juden an der Grenze zurückgewiesen worden. Vom schweizer Begehren für einen Stempel sagt Villiger nichts.

Häsler:
Es ist schon erstaunlich. Man billigt seine eigene Forderung [...] Schuldanerkennung ist keine Schande.

Riegner:
Das Motiv war ganz einfach: Die Juden aus der Schweiz heraushalten. Die Folgen für die Juden waren katastrophal: Dieser Stempel hat den Juden auch den Eintritt in andere Länder verhindert. Rothmund hat dazu auch klar Stellung bezogen: Die Juden gelten als Überfremdungsgefahr, und es gelte, die Verjudung der Schweiz zu verhindern.

Piccard:
Dazu kommt noch Blochers Propagandalüge, die Juden seien selbst einig gewesen mit der Politik des Bundesrates. Rothmund stellte die Juden unter Druck. Es war die Instrumentalisierung des jüdischen Gemeindebundes. Er legte ihnen nahe, die Kosten für aufgenommene Juden selbst zu übernehmen. Die Folgen wären nicht absehbar gewesen, wenn der Gemeindebund diesem Vorschlag nicht zugestimmt hätte.

Riegner:

Was hätten sie tun können? Nichts. Die schweizer Juden wurden unter Druck gestellt, und sie wurden ihrer Ämter beraubt.

Piccard:
Man muss sich natürlich fragen: Wer steckt hinter Rothmund? Wo war die politische Verantwortung? Es war der Bundesrat selbst.


Film über antisemitische Praktiken und Flucht: Heinrich Ungar

Heinrich Ungar: Antisemitismus in der deutschen Schule: Tintenkleckse - Flucht nach Basel
Es gab illegale Wege, Beispiel Heinrich Ungar aus Österreich. Er spürte den Antisemitismus schon im Klassenzeugnis, beim Abschlusszeugnis beste Noten und trotzdem steht in der Empfehlung, er solle wiederholen, und alle jüdischen Schüler bekommen einen absichtlichen Tintenklecks ins Zeugnis.

Die Flucht: Er musste sein gesamten Vermögen abgeben und den Nachweis erbringen, dass er aus der Armee entlassen sei. Flucht an den Badischen Bahnhof in Basel, Grenzübertritt nicht möglich, Rückzug nach Lörrach, Kontrolle durch Zivilleute, diese bringen ihn zur Kommandantur, Untersuchung, da beschliessen die Zuständigen, er dürfe fliehen, weil er "saubere Hände" habe. Sie zeigen ihm den Fluchtweg durch den Fluss "Wiese", sagen ihm genau, wann die Patrouille kommt etc. und so gelingt die Flucht.

Das "Rote Basel" nahm viele Juden auf unter Stadtpräsident Fritz Brechbühl. 1939 verlangt Bundesrat Baumann die Ausschaffung von Juden aus Basel. Der Basler Regierungsrat aber entscheidet, dass die Flüchtlinge bleiben sollen. Das "Sommercasino" dient als Flüchtlingslager, mit militärischer Drill-Ordnung mit täglichem Appell Schwarzarbeit ist streng verboten.

Nach 1945 ist Heinrich Ungar vorerst staatenlos, dann bekommt er den C-Ausweis. Sein Vater in Wien überlebte gemäss Heinrich Ungar den Krieg nicht.


Diskussion

Häsler:
Das Naziregime wollte die Juden loswerden, 1. damit Deutschland so genannt "judenfrei" werde, und 2. damit der Antisemitismus auch in anderen Ländern steige. 1938 wurden in Österreich die Juden in Lastwagen an die Grenze gekarrt, aber nicht nur Juden, sondern auch Leute mit sozialdemokratischer Vergangenheit und andere.

Weber:
Die Lager in der Schweiz waren für Männer strenger als für Frauen. Das Personal war militärisch und überhaupt nicht psychologisch geschult. Ich selber auf dem Bienenberg fand den Appell schrecklich. Jeder Flüchtling hatte eine Nummer, also nicht eingebrannt, aber doch schon eine Nummer, und das wurde z.T. sehr erniedrigend und diskriminierend empfunden. Ich selbst bin auch bei den Behörden angeeckt: Ich hielt den Appell nicht strikt genug, unsinnige Vorschriften habe ich nicht befolgt.

Zum Beispiel war da eine antisemitische Ärztin aus Liestal, mit der hatten wir viel zu tun. Die entschied manchmal gegenüber den Frauen falsche Sachen. Da habe ich die Patienten einfach nach Basel ins Spital geschickt. Das hat natürlich wieder Mehrkosten verursacht. Ich habe auch Männer jeweils am Wochenende hereingelassen, das hätte ich auch nicht gedurft, denn die Familien wurden getrennt, wenn möglich weit voneinander weg, also: die Männer im Oberwallis, die Frauen in Basel, und die Kinder im Appenzellerland usw., eigentlich schrecklich.

Riegner:
Also die Beschwerden von Lagerinsassen sind mir nicht so wichtig. Das Wesentliche war doch immer, noch mehr Leute in die Schweiz reinzubringen.

Piccard:

Hier waren die Praktiken der Kantone gegenüber den Flüchtlingen sehr verschieden. Eine Zentralisierung des Flüchtlingsproblems kam erst während des Krieges. Basel hat dann grossen Widerstand geleistet, St.Gallen auch. Andere Kantone waren nicht so. Das Ganze war sehr "föderalistisch".

Lichtsteiner:
War es somit Glückssache, ob man hereinkam oder nicht?

Piccard:
Es war tatsächlich oft eine Frage der menschlichen Überzeugung der jeweiligen Amtsperson.

Häsler:
Man muss das sich wirklich so vorstellen, dass z.T. Kantone die Juden derart hassten, dass sie sie im Auto nach Basel fuhren und am Barfüsserplatz ausluden und man ihnen sagte: So, hier könnt ihr bleiben.


Film: Der jüdische Flüchtling Fred Wander

Flucht im Vichy-besetzten Frankreich, Flucht Richtung Schweiz nach St-Gingolph. Es wurde ihm gesagt, er solle sich dann sofort bei der Polizei melden, dann könne er sicher bleiben, sonst, wenn sie ihn entdecken würde, sicher nicht. In der Polizeistation aber wird er gepackt und sofort in eine Zelle geworfen, dann im Auto mit sieben anderen an einer Kette im Auto zur Gendarmerie gebracht, dann weiter an der Kette im Zug bis nach Perpignan in Zügen verfrachtet. Beim Aussteigen am Bahnhof Perpignan verstummen alle Menschen um sie. Die Frauen fallen auf die Knie und fangen an zu beten. Fred Wander [Wagner?]: Das war das eindrücklichste Bild in meinem Leben, dass jemand für uns Angekettete auf die Knie fiel und betete. Diesen Augenblick werde ich nie vergessen in meinem Leben.


Diskussion

Riegner:
Zwischen Sommer 1942 und Winter 1943 wurden rundweg alle Juden an der schweizer Grenze zurückgewiesen. Bundesrat von Steiger verkündete "Das Boot ist voll", das rief einen Protest in der Bevölkerung hervor. Dann kam es zu einer "Lockerung" der Vorschriften: Kranke, Schwangere, alte und Kinder unter 16 Jahren durften bleiben, aber immer noch bei Bezahlung des Unterhalts durch den jüdischen Gemeindebund.

Lichtsteiner:
War denn da wirklich ein hermetischer Ring um die Schweiz?

Piccard:
Also, ich kann ein anderes Beispiel aus meinem Bekanntenkreis nennen von einem Juden, der kam auf die Polizeistation und er wurde gefragt, wie lange er sich schon auf der Flucht befinde, und er sagte "seit 2000 Jahren". Da fragte man ihn noch einmal und er antwortete noch einmal "seit 2000 Jahren", und da beschloss man, er könne bleiben.

Riegner:
Das mit dem Unterhalt, den man ab 1933 selber bezahlen musste, das war eine absolute Sonderregelung. Keine andere religiöse Gruppe oder Flüchtlinge mussten das sonst jemals tun. Natürlich wurden dann Sammlungen durchgeführt, und freiwillige Beiträge wurden gegeben, aus alter jüdischer Sitte der Solidarität. Aber der schweizer Staat ging noch weiter und beschloss 1943 eine Sondersteuer, eine "Solidaritätsabgabe" für alle Juden. Das ist eine Diskriminierung. Nirgends sonst gibt oder gab es so etwas.

Das Entscheidende aber war und ist die Schliessung der Grenze, natürlich mit gewissen Ausnahmen. Die Behörden wussten, was den Juden drohte. Der Beschluss der Endlösung hatte Hitler schon im Mai 1941 gefasst, die Wannseekonferenz diente nur dazu, alle Dienste dafür zu mobilisieren. Man hat auch  von den Erschiessungen im Osten im Rücken der Ostfront erfahren, das war der Beginn der Endlösung im September 1941.

Im Sommer 192 kam dann ein Bericht von einem grossen Industriellen, Eduard Schulte, Chef eines Bergwerks mit 35'000 Arbeitern. Schulte kam in die Schweiz und berichtete, dass er im Hauptquartier vom Plan der Aktionen gehört hätte, die Gesamtheit der europäischen Juden [der mitteleuropäischen Länder] nach Polen zu deportieren und dort umzubringen. Das war Befehl der höchsten deutschen Stellen.

Das Wissen um diesen Plan wurde aber in Bern unterschlagen und zensuriert. Der Plan wurde den Gesandtschaften von England und den "USA" unterbreitet, ebenso den schweizer Behörden. Ebenso wurde Kontakt zum Weltkirchenrat aufgenommen, um die schweizer Behörden noch einmal zu informieren. Vorsitzender des evangelischen Kirchenrates war Alfons Köchlin, und er hat es auch mehrfach getan und mit von Steiger verhandelt, ebenso mit dem General.

Häsler:
Ebenso ist zu erwähnen die Mission Bircher. Bircher hat nachher, als er von der Ostfront zurückkam, 150 Vorträge gehalten "Zwischen Menschlichkeit und Landesverrat". Danach wurde ihm die Tätigkeit von Bundesrat Kobelt verboten. Ebenso berichtete der Assistent von Rothmund, Jetzler. Am 13.August 1942 jedoch ging die Grenze zu, genau nach den Meldungen.

Weber:
Und bei Kindertransporten, also Kinder von Kriegsgeschädigten, die in die Schweiz kommen durften, dort durften keine jüdischen Kinder darunter sein. Das war vom Roten Kreuz so organisiert. Die Frauen bei mir im Lager selbst redeten nicht viel. Das Ende des Krieges war am schlimmsten, als man es dann erfuhr, dass alle tot waren.

[nicht erwähnt: Das wurde so behauptet. Viele jüdische Kinder kamen in polnischen Bauernhöfen unter, mussten aber andere Namen annehmen, was vom WJC noch in den 1950er Jahren beim Vatikan moniert wurde].

Häsler:
Es gab eben auch eine breite Bewegung gegen die Schliessung der Grenze. Im November 1942 wurde für die Flüchtlinge eine Sammlung veranstaltet, die 1,5 Millionen Franken einbrachte. Es gab also einen grossen Teil der Bevölkerung, der dem Trend nicht folgte. Ebenso war da die junge Kirche.

Piccard:
Aber genau an Weihnachten und Neujahr 1942 / 1943 wurde die Grenze wieder dicht gemacht, und zwar absolut dicht!

Riegner:
Genau zum Zeitpunkt der schlimmsten Vernichtung wurde die Grenze dicht gemacht. Und von den 30'000 Aufgenommenen waren 7000 schon vor dem Krieg hereingekommen, dann v.a. im 2.Teil des Krieges vor allem italienische und jugoslawische Juden, so haben dank der Schweiz 28'000 Juden überlebt.

Piccard:
Was war denn mit Amerika? Dort mussten die Juden immer so lange auf ein Visum warten, hat denn Amerika nicht auch dazu beigetragen?

Riegner:
Amerika ist das einzige Land, das eine grössere Zahl Juden gerettet hat. Der "War Refugee Bound" hat es ermöglicht, in allen neutralen Ländern die Juden zu unterstützen. So konnten eine halbe Million Juden gerettet werden.


Film: Karl Lutz, schweizer Botschafter in Ungern, rettet Juden mit Visas

Karl Lutz, schweizer Konsul Budapest, vertritt auch die Interessen von Grossbritannien. Er rettet 62'000 Juden durch Ausstellen eines Visums nach Palästina. Später wird Lutz wegen Kompetenzüberschreitung von Bern aus bestraft.


Diskussion

Häsler:
Auch im Fall Grüninger kam die Rehabilitation erst 1993. Also: Solche Leute, die Juden gerettet hatten, wurden nach dem Krieg vom Bundesrat wie Verbrecher behandelt. Walter Häfliger war ein weiterer Retter: Er rettete in Mauthausen Tausende Juden und ist schliesslich in Österreich gestorben. Es ist bis heute leichter zu sagen, "wir mussten", als sich zu entschuldigen... und der Bundesrat argumentierte laufend: Das Volk verkörpere das Herz, er aber den Verstand.

Und so war ihm sein eng gefasster Gehorsamsbegriff wichtiger als die Rettung von Menschenleben.

Riegner:
Nicht nur das: Die Schweiz hat verhindert, dass das Rote Kreuz einen Appell gegen die Judenvernichtung richtete. Ich kann es mir nur so erklären: Man hatte einfach Angst zu protestieren, Angst vor Schwierigkeiten. Das Rote Kreuz hielt Beratungen im Oktober 1942. Eine Mitgliedermehrheit war für den Appell. Da wurde eine abschliessende Sitzung mit Bundesrat Etter gehalten und der hat den Appell schlussendlich verhindert. Er hat einem das Recht auf humanitäre Initiativen versagt.

Piccard:
Es gab sehr viele verschiedene Meinungen. Da war z.B. Gertrud Kurz, die "Flüchtlingsmutter". Das Spektrum im Volk war weit. Es gab einzelne Populisten, dann gab es Rebellen, die dem Ganzen aber relativ machtlos gegenüberstanden.


Film: Der Fall Theodor Bergmann: Der Bruder als Arzt wird verleumdet und aus der Schweiz ausgewiesen

Theodor Bergmann versucht nach dem Krieg zu erfahren, wann sein Bruder 1940 ausgewiesen wurde. Er möchte Akteneinsicht, die wird ihm vom Bundesgericht verweigert. Der Bruder Alfred Bergmann war Arzt in Zofingen. Damals war man froh um jeden Arzt, wo so viele sonst im Dienst waren. Im März 1940 aber trat er eine neue Stelle in Zug an. Da wurde er vom von Missgunst getriebenen Alfred Siegrist der Aargauer Polizei denunziert. Das war das "Todesurteil" für Bergmann. Er wurde als politischer Wirrkopf verleumdet und so über die Grenze geschickt.


Diskussion

Lichtsteiner:
Wieso hat jetzt Herr Bergmann hier keine Akteneinsicht erhalten?

Piccard:
Entscheidend sind in solchen Fällen die kantonalen Archive, die Bezirksarchive. Derzeit läuft eine Umfrage nach Flüchtlingsakten, Naziakteuren, politischen und nachrichtendienstlichen Akten, denn diese Akten sind ein Teil des kollektiven Gedächtnisses.

Häsler:
Also, wenn man sich fragt, war das Boot voll - das Boot war alles andere als voll. Von Steiger hat da alles andere als die Wahrheit gesagt. Nur: Ab 1942 liess Hitler die Juden auch nicht mehr flüchten. Und in der Schweiz wurden Juden einfach generell zu Menschen zweiter Klasse.

Riegner:
Es waren insgesamt 100'000 Kriegsflüchtlinge in der Schweiz, davon 28'000 Juden...

Studer:

Es gab letzten Monat auch eine antisemitische Bemerkung des Basler Münsterpfarrers, der wieder behauptete, die Juden hätten den christlichen "Messias" umgebracht.

Piccard:
Das sind Gedächtnislügen, auf die man bei der ganzen Verdrängung wieder aufläuft. Man kann dann nur entscheiden, soll man darüber reden oder weiter den Mantel des Schweigens darum legen.

Riegner:
Man muss reden! Geschichte hat immer ihre guten Seiten und ihre dunklen Seiten. Man muss beide Seiten kennen. Lehren aus der Geschichte ziehen kann man nur, wenn man weiss, was geschehen ist, so dass man sich nicht immer verteidigen muss.

[nicht erwähnt:
Israel behandelt die Palästinenser nicht besser als Rothmund die Juden im 2.Weltkrieg].

Piccard:
Es ist eine Chance, generationenübergreifend miteinander ins Gespräch zu kommen. Es ist heute die letzte Möglichkeit, und so kann man eine humane offene Haltung entwickeln und solche Diskussionen dieser Art sind dann möglich. Zuerst macht es Angst, denn es mobilisiert negative Gefühle, weil sie schmerzvoll sind.

Weber:
Man muss die absolute Wahrheit aussprechen, dann hat sie Wirkung. Wir müssen lernen, die Vergangenheit anzunehmen, denn wir haben heute wieder ähnliche Probleme. Man kann auch die Gegenwartsprobleme nur so lösen durch das Ansehen der Vergangenheit.







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